taz.de -- Radpolitik in Berlin: Auf dem rechten Auge blind

Ein Lkw überrollt am Alex eine Radlerin. Die Verkehrsverwaltung untersagt daraufhin das Rechtsabbiegen. Doch das Verbot wird ignoriert.
Bild: Wer Schilder lesen kann, ist klar im Vorteil: Alltag am Alex

Berlin taz | Wer überprüfen möchte, wie weit sich AutofahrerInnen an Verkehrsregeln halten, für den ist der Alexanderplatz in Mitte ein perfekter Ort. An der Kreuzung Alexanderstraße/Karl-Marx-Allee zum Beispiel ist für fast alle vom Einkaufszentrum Alexa kommenden VerkehrsteilnehmerInnen das Rechtsabbiegen in die einstige DDR-Aufmarschmeile untersagt. Nur RadlerInnen dürfen abbiegen. Das ist auch gut erkennbar: Mehrere Schilder weisen auf die geänderte Vorgabe hin; die einstige Rechtsabbiegespur ist für Autos gesperrt und war wohl die erste Pop-up-Bikelane der Stadt.

Trotzdem muss man nicht lange warten, bis das erste Auto rechts abbiegt, dabei die Spur der geradeaus fahrenden RadlerInnen kreuzt und diese in Gefahr bringt – weil sie gar nicht mehr damit rechnen, dass ihnen jemand in die Quere kommen könnte. In höchste Gefahr übrigens: Rechtsabbiegen, insbesondere von Lkws, [1][verursacht die meisten tödlichen Unfälle] für Radfahrende. Erst am Freitagnachmittag ist dabei wieder eine Radlerin von einem Laster getötet worden (siehe Kasten). Sie ist laut ADFC die 14. Radtote in Berlin in diesem Jahr.

Tatsächlich zweigen an der Ecke Alexanderstraße/Karl-Marx-Allee meist in jeder zweiten, manchmal auch erst jeder dritten Ampelphase ein oder mehrere Fahrzeuge regelwidrig ab. Eine Zählung der taz an einem verkehrsarmen Mittwochmittag hat ergeben, dass von 107 Fahrzeugen, die sich zwischen 13 und 13.30 Uhr auf der Geradeausspur einordneten, 14 rechts abbogen. Fast jede/r Achte versteht die Straßenschilder nicht oder ignoriert sie bewusst.

Dabei ist diese Abzweigung nicht irgendeine. Am 20. Februar 2019 wurde hier eine 37-jährige Radlerin eben von einem rechtsabzweigenden Lkw getötet. Das Problem zu jener Zeit aus Sicht der rechtsabbiegenden Autos und Laster: Für sie war die grüne Ampelphase nur wenig länger als für geradeaus fahrende RadlerInnen. Da an dieser Kreuzung oft viele Räder unterwegs sind, blockierten sie quasi die abbiegen wollenden Fahrzeuge, was wiederum viele AutofahrerInnen zu riskanten und hektischen Fahrmanövern verleitete.

Einmal schnell gehandelt

Um diese künftig auszuschließen, hatte [2][Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne)] wenige Tage nach dem Unfall dort das Rechtsabbiegen verboten. Doch was tun, wenn das einfach ignoriert wird und fast permanent RadlerInnen in Gefahr gebracht werden? Denn das häufige Fehlverhalten an dieser Abzweigung ist allgemein bekannt, und zwar nicht nur Radverbänden wie dem ADFC: Selbst laut der Verkehrsverwaltung komme rechtswidriges Rechtsabbiegen an dieser Stelle „häufig“ vor, wie Sprecher Jan Thomsen auf taz-Anfrage mitteilte.

„Solange die Polizei dieses Verhalten nicht ahndet, ignorieren Autofahrer das Abbiegeverbot. Das ist kreuzgefährlich“, sagt Ragnhild Sørensen, Sprecherin des Vereins Changing Cities, der Träger des Volksentscheids Fahrrad war. Nach Auskunft der Polizei kam es seit Februar 2019 an dieser Stelle zu insgesamt 19 Verkehrsunfällen; zwei Personen wurden leicht, eine schwer verletzt. Vier der Unfälle wurden durch rechtsabbiegende Autos verursacht. Berlin habe Hunderte solcher Kreuzungen, aber nicht genügend Polizisten für Kontrollen, sagt Sørensen.

Auch dem ADFC ist die Kreuzung am Alexanderplatz nach dem Unfall immer wieder negativ aufgefallen. „Das Rechtsabbiegeverbot wird von einer großen Menge an Pkw und Lkw-Fahrern missachtet“, sagt Frank Masurat, Landesvorstand für Finanzen und Politik, und spricht von einer „Todeskreuzung“.

Das Problem sind laut ADFC aber nicht nur ignorante Auto- und Lkw-FahrerInnen, sondern auch die Verkehrsverwaltung. Denn eigentlich sollte das Abbiegeverbot nur so lange gelten, bis die Ampel an der Kreuzung RadlerInnen und der AutofahrerInnen getrennte Grünphasen vorgibt. Masurat gibt gerne zu, dass die Umprogrammierung der Lichtanlage an dieser großen Kreuzung nicht einfach sei.

Trotzdem dauere es zu lange: „Ein halbes Jahr wäre ja in Ordnung gewesen. Aber seit 18 Monaten ist hier nichts passiert“, kritisiert er Senatorin Günther. Und fügt hinzu: „Terminliche Aussagen der Verkehrsverwaltung sind nicht besonders belastbar.“ Auch an anderen Kreuzungen hätten sich zuletzt solche Veränderungen in die Länge gezogen: „Eine Umprogrammierung an Ampeln dauert in Berlin mindestens ein Jahr.“

Auch Changing-Cities-Sprecherin Sørensen drängt Senatorin Günther auf mehr Tempo: „Wir alle fragen uns, warum es so lange dauert. Das kann nur an verkrusteten Strukturen und unklaren Verantwortlichkeiten in der Verwaltung liegen.“

Abhilfe „bis zum Herbst“

Die Verkehrsverwaltung erklärt, dass sich die Sicherheitslage trotz allem durch das Abbiegeverbot „entscheidend verbessert“ habe. Sie kündigt an, dass die getrennte Ampelschaltung „schnellstmöglich“ kommen soll: zusammen mit der Fertigstellung der Straßenbauarbeiten „voraussichtlich im Spätherbst“. Bis dahin muss man mit den „vorsätzlichen Zuwiderhandlungen“ der AutofahrerInnen wohl leben. Effektiv könnten diese laut Verkehrsverwaltung nur mit „intensiven Kontrollen verhindert werden“. Dafür sei die Polizei zuständig.

Die hingegen beurteilt die Lage vor Ort ganz anders. Seit der Einführung des Rechtsabbiegeverbots seien dort 151 Kontrolleinsätze durchgeführt worden, wie die Polizei auf taz-Anfrage mitteilt; bei den meisten habe das Abbiegeverhalten im Fokus gestanden. Insgesamt fast 3.000 Anzeigen wegen Verkehrsordnungswidrigkeiten wurden gefertigt. Es handle sich beim unerlaubten Rechtsabbiegen an dieser Stelle lediglich um „Einzelfälle“. Denn, so die erstaunliche Begründung der Polizei: „Für Fahrzeuge ist ein verbotswidriges Abbiegen aufgrund der gegenwärtigen Baustellensituation kaum möglich.“

Die „folgenlose Nichtbeachtung der vorgeschriebenen Fahrtrichtung“ kostet übrigens lediglich 10 Euro Verwarnungsgeld; kommt es dabei zu einer Gefährdung oder einem Unfall, sind bis zu 25 Euro zu zahlen.

25 Aug 2020

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Bert Schulz

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