taz.de -- Essay Zukunft der Europäischen Union: Wer schützt die Armen?

Die Politologin Ulrike Guérot fordert eine europäische Republik. Doch solange es keine Fiskal- und Sozialunion gibt, braucht es den Nationalstaat.
Bild: Eine Denkaufgabe

„Verwunderlich“ findet es Ulrike Guérot, [1][„wie sich der derzeitige europäische Kurs am Nationalstaat festklammert“]. Wo doch jeder wissen könne, dass keine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre im nationalstaatlichen Rahmen zu bewältigen ist: das Klima retten, Google besteuern, den Flüchtlingen helfen, die Jugendarbeitslosigkeit beenden, und das reparieren, was Europa zum Fluchtpunkt der Wünsche und der Wanderungen macht: den Sozialstaat.

Der „derzeitige europäische Kurs“ wird weiterhin vom EU-Rat bestimmt, der Kompromissbörse der nationalen Interessen, sprich der jeweiligen Wirtschaftsmächte. Was also anstehe, sei die Überführung der nationalstaatlichen Politikmechanismen in eine europäische Republik. Nicht der Nationen, sondern der Regionen – so führt Ulrike Guérot es in ihrer feurigen Streitschrift über den „neuen Bürgerkrieg“ (Ullstein) aus.

Wenn Multis, Finanzagenturen und digitale Raubritter die Steuersouveränität der Nationalstaaten unterspült haben, wenn Wettbewerbszwänge die Regierungen zwingen, die Infrastrukturen zu privatisieren und die Sozialsysteme zu demontieren, dann ist dem nur noch durch „eine Transnationalisierung der Demokratie“ (Jürgen Habermas) zu begegnen.

Der Gedanke ist theoretisch plausibel. Aber wenn man annimmt, dass die gewählten Politiker nicht ausschließlich Kreaturen des Kapitals sind, dann stellt sich die Frage: Warum kommt es nicht zu dieser Transnationalisierung? Sondern warum wachsen stattdessen die nationalen Bewegungen gegen Europa?

Auch hier gilt: „It’s the economy, stupid!“. Guérot selbst zitiert zustimmend Marine Le Pen: „Wenn es die Nation nicht mehr gibt, wer kümmert sich um die Armen?“ Mit anderen Worten: Solange keine Fiskal- und Sozialunion das freie Spiel des Kapitals balanciert, solange es zwischen den Regionen unterschiedlicher Produktivität nicht so etwas wie einen „Länderfinanzausgleich“ und für alle europäischen Arbeitnehmer ein einheitliches Arbeitsrecht gibt, bieten nur die nationalen Regelungen Schutz, auch wenn sie schwer unter Beschuss liegen.

Für die Herstellung solcher gesamteuropäischer Sozialstaatsstrukturen aber gibt es keinen „ökonomischen Treiber“, so wie es im 19. Jahrhundert die Gegnerschaft zwischen nationalen Industriebourgeoisien und Gewerkschaften war.

Abwärtsspirale in den Krisenjahren

Denn in den Nationalstaaten Europas wirken sich Interessen und Strategien der großen Kapitale unterschiedlich aus. Regierungen aber sind ihrer jeweiligen Klientel verpflichtet, und ebenso die Gewerkschaften: Die IG Metall hat in erster Linie die gutverdienenden Arbeiter in der deutschen Exportindustrie zu schützen. Zwar werden die Arbeitsverhältnisse in Europa überall und mit ähnlichen Tricks dereguliert (als Nächstes in Frankreich), werden überall die prekären Beschäftigungen, die befristeten oder die Werkverträge zur Regel. Aber ein europäisches Arbeitsrecht ist ebenso wenig in Sicht wie ein europäisches Unternehmenssteuerrecht.

Im Gegenteil: In den Jahren der Krise (so recherchierten die Journalisten von „Investigate Europe“) setzte, ermuntert vom Brüsseler Wirtschaftskommissar, eine Abwärtsspirale ein: im Steuerrecht, aber auch bei der Befristung von Arbeitsverträgen, dem Lohndumping und der Zerschlagung von Tarifsystemen.

Es trifft alle, aber es trifft alle unterschiedlich – am schlimmsten die Portugiesen und die Rumänen. Und deshalb gibt es keine mit Macht ausgestatteten Vorstöße zu europäischen Regelungen: die nationalen politischen Klassen halten still, weil sie machtlos gegen die Erpressungen der Multis sind oder selbst dem Irrglauben an die wachstumsfördernde Kraft von Sozialabbau und Steuerdumping anhängen; die Gewerkschaften sind schon lange überall in der Defensive und waren kaum je international gesonnen.

Es regiert also die Differenz – und wenn es ein gemeinsames europäisches Interesse (auch der Liberalen und der „Populisten“) gibt, dann dieses: die immer noch, im Vergleich zum Rest der Welt, komfortable Ungleichheit Europas mit Geld und Gewalt zu verteidigen gegen das eindringende Chaos.

Denn „höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, bessere Wohnungen, eine umfassende Sozialversicherung und so weiter – es ist keinesfalls sicher, dass wir uns diese Dinge leisten können, wenn wir die Vorteile preisgeben, die wir aus der kolonialen Ausbeutung ziehen“. Das schrieb George Orwell 1947. Setzen wir heute statt kolonialer Ausbeutung den ungleichen Handel, das Natur zerstörende Wachstum und die Abschottung gegen die Migration, dann liegt hier der Grund für den fehlenden Treiber zu einem solidarischen Europa. Denn für einen solchen Kontinent müssten die reichen Länder, voran die Deutschen, draufzahlen, und das würden sie – so zumindest der Glaube ihrer Repräsentanten – niemals hinnehmen.

Menschen wollen ein einmal erreichtes Wohlstandsniveau nicht freiwillig aufgeben. Diese Weigerung gilt auch für Europa im Verhältnis zum Rest der Welt. Die Herausforderungen, die vor uns liegen – die Klimakatastrophe abmildern, die ökologischen Schäden beseitigen, Afrika retten, den Energiewandel forcieren, die Ungleichheit beseitigen, die Arbeitszeit verkürzen, so dass alle auch bei rasanter Automation sinnvolle und regelrechte Arbeit haben – dies alles wird nur zu bewältigen sein, wenn wir, die Mittelschichten Westeuropas, unsere Erwartungen an Wachstum und Konsum, unseren Lebensstil und unsere Zeitbudgets drastisch korrigieren.

Schöner ferner Polarstern

Und weiter: wenn die Lasten gerecht und gleichmäßig verteilt werden, in den Nationen und innerhalb Europas. An die Stelle des alten Klassenkampfs tritt so in den nächsten Runden bestenfalls die Auseinandersetzung zwischen denen, die ihre Besitzstände bis aufs Messer verteidigen wollen, denen im Osten Europas, die nachholen wollten und sich nun betrogen sehen, und den von Erkenntnis des Notwendigen und von Moral getriebenen europäischen Idealisten, wie Ulrike Guérot sie im Sinn hat. Einstweilen sind sie als politische Kraft noch nicht in Sicht – aber die Republik Europa immerhin ein schöner ferner Polarstern.

Warum, so fragt Ivan Krastev in seinem Essay „Europadämmerung“ (edition suhrkamp) – einer brillanten Typologie der Populismen in Ost und West –, warum gibt es nicht zumindest unter den jungen, gut ausgebildeten, polyglotten und liberalen oder linken Bürgern Westeuropas mit ihrer prekären Zukunftserwartungen eine starke paneuropäische Bewegung?

Seine Antwort: Ihr Protest ist eine „Partizipation ohne Repräsentation“. Sie denken international, sind vernetzt, aber verachten politische Programme und parlamentarische Formen der Repräsentation. Sie machen Party mit „Pulse of Europe“, vielleicht schließen sie sich gar Varoufakis’ Bewegung DiEM25 an, aber das sind nur schnell welkende Eliteblumen auf dem langen Weg zu dem, was sich Ulrike Guérot als „europäischen Vormärz“ ausmalt: eine Volksbewegung für ein Europa, in dem die Region wieder „Heimat“ und die Republik transnational geworden ist.

„Wir schaffen kein demokratisches Europa, ohne zu üben“, schreibt sie denn auch am Ende, „die europäischen Bürger brauchen dringend eine Lernerfahrung, in der sie sich als gemeinsamen politischen Körper verstehen lernen.“

Welche Erfahrung könnte das sein? Vor einigen Wochen haben europäische Enthusiasten aus Bethel einen transnationales Sozialjahr für alle Jugendlichen Europas, gleichsam als letztes Schuljahr, vorgeschlagen. Ein kühner Schritt wäre das, vielleicht können ihn sogar eher Konservative als Liberale fordern. Die Vorbedingung aber für solche Gründungen wäre die Instandbesetzung der einzigen Institutionen, in denen die demokratische Substanz oder was von ihr noch übrig ist, nach wie vor institutionalisiert ist: die nationalen Parlamente. Die wirksamste und wichtigste Lernerfahrung für das Parlament einer europäischen Republik macht man also nach wie vor in den politischen Parteien.

16 Sep 2017

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AUTOREN

Mathias Greffrath

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