taz.de -- Europa gegen den Terrorismus: Vom Primat des Politischen
Über die Existenzvoraussetzungen des alten und des neuen Terrorismus. Oder wie sich der Dschihadismus am effektivsten bekämpfen lässt.
Jede Zeit bringt eine spezifische Gewalt hervor. Bis zum Ende des Kalten Kriegs stand Westeuropa im Fokus bewaffneter linksextremer Gruppen, aber auch von Neonazis, die im Gegensatz zur Linken wie in Deutschland (Münchner Oktoberfest, 1980) oder in Italien (Bahnhof Bologna, 1980) schon damals „weiche“ Ziele für ihre bewaffneten Aktionen bevorzugten, also wahllos möglichst viele Menschen umbrachten. Die extreme Linke wie die Rote Armee Fraktion (BRD) oder die Roten Brigaden (Italien) wählten in Westeuropa für ihre Attentate hingegen überwiegend Angehörige der „Funktionseliten“ der kapitalistischen Demokratien: Wirtschaftsbosse, Staatsanwälte, Politiker.
„Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, schrieb der preußische Militär und Theoretiker Carl von Clausewitz im frühen 19. Jahrhundert in seiner berühmten Schrift „Vom Kriege“. Im politischen Sinne hatte der Linksterrorismus in Westeuropa bis zum Ende des Kalten Kriegs ein klassisches Links-rechts-Schema zur Grundlage. Die sich als antifaschistisch verstehenden Linksradikalen sahen sich als „kämpfende Klasse“ auf der Seite des Volks, das sie von den Eliten durch ihre Taten abspalten und für sich gewinnen wollten.
Übergänge zum Massenterrorismus der Rechten gab es jedoch schon. Gehörte jemand den amerikanischen Streikkräften an, hatte er sein Menschsein oft von vornherein verwirkt, egal ob General, Offizier oder einfacher GI. Dies machte die RAF bereits in ihrer sogenannten Mai-Offensive 1972 deutlich. Auch bei den westdeutschen Revolutionären Zellen (RZ) verschmolzen in den 1970er Jahren Klassen- mit Volkskampfmotiven. So unterstützte man in spektakulären Aktionen (Opec-Überfall Wien 1975) den völkischen Terrorismus palästinensischer Gruppen gegen Menschen jüdischer Herkunft weltweit (Entebbe 1976).
Bis zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums und dem damit verbundenen Ende des Ost-West-Gegensatzes war der linke Terror in Europa aber deutlich in die politische Sprache des „kämpfenden Kommunismus“ eingebunden. Er unterlag damit in seiner Gewalt einer gewissen Mäßigung, war an die Ethik eines proletarischen Humanismus gebunden. Ausnahmen bildeten befreiungsnationalistische Gruppen wie ETA (Spanien) und IRA (Großbritannien), die linke und rechte Methoden mischten, „weiche“ Ziele mit Attentaten auf einzelne Staatsrepräsentanten kombinierten.
Große Volksschlachten
Mit Ende des Kalten Kriegs und des Postfaschismus hat sich das Primat des Politischen in Europa in den 1990ern deutlich verschoben. Die letzten linksradikalen Guerillagruppen verloren ihre politischen Existenzvoraussetzungen. Der Linksterrrorismus konnte zuvor polizeilich kaum besiegt werden. Doch mit dem Untergang des Sowjetimperiums verlor er seinen ideologischen Background, jene Vorstellung, Avantgarde eines im Namen der sozialistischen Heilsutopie weltweit zu führenden Klassenkampfs zu sein. Er verlor aber nicht nur das Symbol, sondern auch das konkrete Territorium der für seine Logistik unabdingbaren Nachschub- und Ausweichlinien, die (nicht nur bei RAF und RZ) über Ostberlin, Budapest, Belgrad bis nach Tripolis, Algir, Damaskus, Beirut oder Bagdad reichten.
Übertragen auf die heutige Situation, bedeutet der Satz von Clausewitz: Man muss das politische Dispositiv des Dschihads aufspüren, um es auf seinem Territorium effektiv bekämpfen zu können. Die alte europäische faschistische Rechte hatte mit Attentaten (Oktoberfest, Bologna) das Ziel verfolgt, eine Strategie der Spannung im eigenen Land zu schaffen, um die Stimmung für einen Putsch zu erzeugen. Beim aktuellen europäischen Anteil des Dschihad ist der Sachverhalt jedoch komplizierter. Mit der Wahl möglichst „weicher Ziele“ steht er in der Tradition der faschistischen Rechten, will aber über ganze Kontinente hinweg große Volks- und Rassenschlachten inszenieren.
Der oder die Einzelne zählen dabei wenig. Die kleinen Fußsoldaten, die islamofaschistischen Attentäter von Brüssel und Paris, verfolgen die fixe Idee, von Rakka bis Algier ein einheitliches Kalifat zu schaffen, Gläubige und Ungläubige zu homogenisieren. Sie glauben an ihren Erfolg, da sie bereits große Gebiete in Syrien, Irak und Nordafrika unter ihrer Kontrolle haben. Schon al-Qaida hätte ohne den Rückzugsraum Afghanistan nicht die Stärke entfalten können, die sie brauchte, um Attentate von der Größenordnung 9/11 zu verüben. Ähnlich verhält es sich nun mit dem IS, den Rückzugsräumen in Syrien/Irak, Nordafrika sowie den Anschlägen in Brüssel und Paris.
Auch die früheren linksextremen Gruppen in Westeuropa machten real existierende Demokratiedefizite für ihr Handeln geltend, die sie beseitigen wollten. Beim Islamofaschismus ist das Problem wesentlich umfassender, da die gesellschaftlichen Entwicklungsdefizite, die zu seinen Voraussetzungen gehören, um ein Vielfaches größer sind und kaum auf europäischem Territorium liegen.
Tiraden gegen Israel
Der islamistische Faschismus gedeiht vor allem dort, wo der Postkolonialismus in Nordafrika und im Nahen Osten durchweg unfähige Herrschaftssysteme hervorbrachte, Bereicherungsdiktaturen, die sich selber einer religiös-völkischen Rhetorik bedienen. Die arabischen Herrschaftscliquen eint, dass sie seit Jahrzehnten von ihrem eigenen gesellschaftspolitischen Versagen durch Tiraden gegen Israel, USA und den Westen ablenken. Sie deuten auf angebliche Hinterlassenschaften des westlichen Kolonialismus, wo sie selber für Fehlentwicklungen verantwortlich sind.
Der Dschihad übernimmt diese vorgestanzte religiöse und völkische Rhetorik. Er wendet sie radikalisiert gegen die alte Herrschaft selbst, die er ebenfalls als westlich verderbt beschreibt. Stärker als die Mullah-Revolution im Iran (1979) vereint der sunnitische Dschihadismus sozialrevolutionäre Elemente, die auch den alten konservativen, in die Diktaturen eingebundenen Klerus wie in Syrien, Saudi-Arabien oder Ägypten herausfordert. Die Lage im sunnitischen Großterritorium eskalierte, als nach al-Qaida, Taliban und Co. mit dem Arabischen Frühling eine dritte Kraft erschien. Sie ist dank der neuen Medien globalisiert und fordert die Demokratisierung der gesamten Region. Ein neues Dispositiv, das Despotien und Dschihadisten nun gemeinsam bekriegen.
Man muss den Islamofaschismus und seine Zellen in Westeuropa mit allen polizeilichen Mitteln bekämpfen, politisch die Diskussion mit anfälligen Milieus suchen und mit Stärkung von Sozialarbeit dafür sorgen, dass nicht noch mehr Gefährdete abdriften. Wirklich besiegen wird man ihn allerdings nur, sofern es den Gesellschaften Nordafrikas und des Nahen Ostens mit Unterstützung von außen gelingt, sich zu reformieren. Es ist eine globale und lang andauernde Auseinandersetzung. In der tatsächlichen sozialen Ungerechtigkeit und Brutalität der herrschenden Regime in der islamischen Welt findet der Dschihad das Primat seiner Politik. Er formuliert eine Mischung aus Klassen- und Rassenideologien, die sich der Religion nur als Ausdrucksfolie bedient.
Syrien ist zerfallen, vor den Augen der Welt konnte der Diktator die Demokratiebewegung abschlachten, der IS sich territorial ausbreiten. Flüchtlingswellen und Attentate wie in Paris oder Brüssel zeigen aber: Die Dynamik dieser Konflikte ist entgrenzt, Europa längst Teil davon geworden. Das westliche Europa muss sich den politischen Problemen des südlichen Mittelmeerraums aktiv stellen.
Die Europäische Gemeinschaft darf sich nicht wie zuletzt im Falle Syriens und des Völkermörders Assad politisch wegducken. Ein Zurück vor die Globalisierung wird es nicht geben. Es bietet sich in dieser Auseinandersetzung keine Alternative zu einer aktiven europäischen Außenpolitik, die die Demokratiebestrebungen vor Ort unterstützt. Nur so wird man die Verbindung von autoritär geprägten Figuren in Westeuropa zu der psychotisch anmutenden Outsider-Erzählung vom Heiligen Krieg dauerhaft unterbrechen. Ohne die Symbolik einer konkret existierenden Reichsidee sind die Dschihadisten nichts.
25 Mar 2016
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