taz.de -- Kolumne Eben: Vermutlich rechts
Wenn Rechte nur „vermutlich Rechte“ sind, dann ist Gott nur mutmaßlicher Gott, Marx mutmaßlicher Marxist und Adorno mutmaßlicher Adornit.
Mutmaßlichen Dummschwätzern rief man bisher hinterher, dass es vermutlich besser wäre, einfach mal die Klappe zu halten. Auch der Kanzlerin wurde das im Umgang mit Flüchtlingskindern empfohlen. Dann sagte sie lange gar nichts mehr und alle riefen nach einem „Machtwort“, in der Hoffnung, dass die Rechten in Heidenau, Weissach und anderswo ihren Pogrom, äh sorry, ihren „Zwischenfall“ abbrechen.
Vermutlich hielt die Kanzlerin aber auch einfach nur die Klappe, weil sie sich nicht nochmal verplappern will. So wie die dpa, die den vermutlich seriösen Medien Sonntagabend von ZDF bis [1][FAZ] die Zeile „Randale zwischen Linken und vermutlich Rechten in Heidenau“ lieferte.
Mutmaßliche Medien wie Facebook und Twitter und andere [2][“deutsche Medien ohne Mandat“] (Philipp Lengsfeld, vermutlicher Christdemokrat) würden vermutlich sowieso wieder nur rumnörgeln, denkt sie vermutlich. Vermutlich denkt sie aber auch, dass ein Machtwort die besorgten Bürger auch nicht davon abhalten würde, besorgt zu sein. Vermutlich denkt deswegen auch der Nachrichtenredakteur, dass er vermutlich alles richtig gemacht hat.
Vermutlich wäre die Geschichte eine andere gewesen, hätte der Mensch schon früher angefangen, seine Bewertungen in Vermutung zu stellen. Womöglich hätte es niemals Mord und Totschlag gegeben, wenn geschrieben worden wäre: „Sein oder Nichtsein, das ist hier vermutlich die Frage“ (Shakespeare, angeblicher Dichter).
Vielleicht hätte der Kapitalismus nie eine Chance gehabt, wenn es geheißen hätte: „Ein mutmaßliches Gespenst geht um in Europa – der mutmaßliche Kommunismus“ (Karl Marx, mutmaßlicher Marxist). Die Nazis wären womöglich nie über Deutschland hinausgekommen, hätte es geheißen: „Seit 5:45 wird vermutlich zurückgeschossen“ (Hitler, mutmaßlicher Nazi).
„Seien wir realistisch, versuchen wir das Mutmaßliche“
Vielleicht hätte es Stalin nie zu was gebracht, wenn es geheißen hätte: „Freiheit ist immer die Freiheit des vermutlich Andersdenkenden“ (Rosa Luxemburg, vermutliche Abweichlerin). Eventuell hätte es Kuba nie gegeben, wenn Che Guevara (mutmaßliche Ikone) gesagt hätte: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Mutmaßliche.“
Möglicherweise hätte die Sünde nie das Licht der Welt erblickt, wenn geschrieben gestanden hätte: „Am Anfang war wahrscheinlich das Wort und das Wort war mutmaßlich bei Gott“ (Gott, mutmaßlicher Schöpfer). Eventuell hätte es niemals ein Biomüllproblem gegeben, wäre gerufen worden: „Holger, der vermeintliche Kampf geht voraussichtlich weiter“ (Rudi Dutschke, vermeintlich grün).
Ganz eventuell hätte es niemals linke Kritiker gegeben, wenn geschrieben worden wäre: „Es gibt vermutlich kein richtiges Leben im wahrscheinlich falschen“ (Adorno, mutmaßlicher Adornit). Und das Wort vermutlicherweise wäre vermutlich in den Duden aufgenommen worden.
Bei aller Vermutung ist nur eins sicher: Die Schwierigkeit, auszusprechen, dass ein Rechter ein Rechter ist, ist so alt wie das Verbot der NSDAP. Daran hat sich nichts geändert. Oder um es mit Samuel Beckett (mutmaßlich Wartender) zu sagen: „Die Sonne schien, weil sie vermutlich keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.“
25 Aug 2015
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Wer gerade nicht Terrorexperte ist, ist Werteexperte. Wer „unsere Werte“ verteidigt und was die genau sind, da geht es stark auseinander.
Keine Anhaltspunkte haben, das können Polizei und Verfassungsschutz immer dann, wenn irgendwas mit Hitler ist.
Die Stimmung ist eine Borderlinerin und kippt gerne um. Wäre sie nicht so profitabel, wäre sie längst im Heim für Schwererziehbare.
Immer mehr Leute fuchteln mit ausgestrecktem Zeigefinger vor dem Gesicht rum. Da ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung.
Der Justizminister hat das Unternehmen aufgefordert, stärker gegen rechtsextreme und rassistische Inhalte vorzugehen. Ihn hätten viele Beschwerden erreicht.
Die Gewalt von Heidenau verunsichert die linksradikale Bewegung: Hat ausgerechnet die eigene Szene die rassistische Gewalt unterschätzt?
Statt Runen-Tattoos in der Sauna zu zeigen, zünden Nazis nachts Häuser an. Bimssteine mit Luffa-Schwämmen zu vergleichen, ist da unangebracht.
Das deutsche Recht bietet genügend Möglichkeiten, Sicherheit und Ordnung durchzusetzen. Es braucht keine Bannmeilen um Flüchtlingsheime.
Der Vizekanzler hatte ja schon vorgelegt: Nun kündigt Angela Merkel an, am Mittwoch die Flüchtlingsunterkunft in Heidenau zu besuchen.
Der Bürgermeister von Heidenau, Jürgen Opitz, zeigt klare Kante gegen Nazis. Wer wissen will, was Zivilcourage ist, muss ihm zuhören.
Erst nach einem Medien-Shitstorm wendet sich die Kanzlerin deutlich gegen Naziübergriffe. Zur Flüchtlingspolitik äußert sie sich nur vage.
Die rechte Szene sucht bei den Ausschreitungen in Heidenau den Adrenalinkick. Schuld sind natürlich immer die anderen.
Flüchtlinge in Zelte stopfen gilt hierzulande als „menschenwürdig“. Kein Wunder. Hierzulande gilt Zelten auch als Menschenrecht.
Beselich-Niedertiefenbach, Dresden-Stetzsch, Prien, Groß Lüsewitz, Halberstadt, Lübeck, Sangerhausen, Haselbachtal, Tröglitz, Freital, Bremen.
Must-See für Binge-Watcher: „Grexit“. Die neue Qualitätsserie begeistert mit bizarren Plots, scheiternden Helden und kuriosen Dialogen.
Deutschland gegen Griechenland. Spannende Partie. Kann Varoufakis das Spiel für sein Team entscheiden. Oder trifft Schäuble in letzter Minute?
Wörter machen. Auch viel Unsinn. Beim Wortgeballer zwischen Netzfeministinnen und ihren Kritikern gibt es einen neuen Höhepunkt: „Morddrohung“.