taz.de -- Die schwarz-rote Ministerriege: Lichtgestalten und kühle Strategen

Die SPD in Aufbruchslaune, Unionspolitiker mit Machtoptionen und ein absurder Gabriel-Hype – und dennoch bleibt vieles erst einmal beim Alten.
Bild: Berliner Firmament mit Erzengel Gabriel

Realität und Wahrnehmung sind zwei unterschiedliche Dinge. Ein lustiges Beispiel: Die alte und neue Bundeskanzlerin Angela Merkel, deren Unionsparteien bei der Bundestagswahl nur knapp an der absoluten Mehrheit vorbeigeschrammt sind, gilt als Auslaufmodell. Die Ministerriege aus ihren Reihen wird vor allem im Hinblick auf die Frage analysiert, wer sich als Nachfolger oder Nachfolgerin in Stellung bringt.

Sigmar Gabriel hingegen, dessen Sozialdemokraten es nicht einmal auf 26 Prozent gebracht haben, wird nach dem Erfolg beim Mitgliederentscheid seiner Partei gefeiert wie eine neue Lichtgestalt am Firmament. Es bleibt abzuwarten, wann von ihm erwartet wird, Wasser in Wein verwandeln zu können.

Jetzt muss er erst einmal regieren – beziehungsweise mitregieren. Bei allen erwartbaren und nicht erwartbaren Fährnissen, die der normale Ablauf von Zeit so mit sich bringt. Die Richtlinienkompetenz liegt bei der Kanzlerin. Vermutlich noch mehrere Jahre, bevor sie sich konkrete Gedanken über die Gestaltung ihres letzten Lebensdrittels machen muss. Der absurde Medienhype wird sich in einigen Tagen legen, der den Eindruck erweckt, die nächsten Wahlen – oder gar: von der Verfassung nicht vorgesehene Kanzlerwahlen – stünden unmittelbar bevor.

Noch in der verzerrtesten Wahrnehmung steckt allerdings oft ein wahrer Kern. Es ist Sigmar Gabriel in der Tat gelungen, in der SPD eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen. Das deprimierende Gefühl, man gehöre zu einer Verlierertruppe, ist zumindest vorübergehend von der Überzeugung abgelöst worden, endlich, endlich wieder Teil der Avantgarde zu sein. Das Mitgliedervotum sei „ein Fest innerparteilicher Demokratie gewesen“, erklärte Gabriel. Und mehr als das: „Der Tag wird in die Geschichte der Demokratie in Deutschland eingehen.“

Vielleicht stimmt das sogar. Viele, darunter die Autorin dieses Textes, haben den Mitgliederentscheid zunächst belächelt und verachtet. Wenn sich eine Parteispitze nicht einmal traut, eigenständig einen Koalitionsvertrag auszuhandeln – wofür ist sie dann gewählt worden? Wie kleinmütig darf man sein?

Klug kalkuliertes Risiko

Schon nach den ersten Regionalkonferenzen wurde deutlich: Hier entwickelte sich eine Eigendynamik. Gabriel war ein Risiko eingegangen, aber ein klug kalkuliertes Risiko. Eine Niederlage hätte nicht nur für ihn persönlich das Ende aller politischen Träume bedeutet, sondern vielleicht für die gesamte Traditionspartei. Die führungslos und ohne Orientierung in die Bedeutungslosigkeit getaumelt wäre.

Dieses Schicksal wurde abgewendet. Nicht nur deshalb, weil die SPD-Mitglieder den Abgrund fürchteten, in den sie schauten. Sondern auch, weil die Sozialdemokraten im Rahmen der Koalitionsverhandlungen – und mit der Drohung des Mitgliedervotums – sehr viel mehr aushandeln konnten, als sie selbst wohl zu hoffen gewagt hatten. Schon wahr: Das allermeiste, was in diesem albern detailverliebten, allzu langen Dokument steht, wird vermutlich niemals umgesetzt werden. Schließlich steht es unter Finanzierungsvorbehalt.

Aber in immerhin zwei wesentlichen Fragen ist der SPD der Einstieg in einen Systemwechsel gelungen: bei der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und bei der Bereitschaft, eine doppelte Staatsbürgerschaft unter bestimmten Umständen als Regelfall und nicht – widerwillig – als Ausnahme zu akzeptieren.

Bei beiden Themen hätte man sich für Betroffene mehr wünschen können. Zugleich gilt jedoch: Beide Vorhaben lassen sich ohne Kosten für den Bund umsetzen. Und es wird schwer sein, wenn nicht gar unmöglich, das Rad zurückzudrehen, ist es einmal in Gang gesetzt. Das ist eine ziemlich gute Rechtfertigung für eine ungeliebte Koalition.

Schon wahr: Weder eine neue Europapolitik noch eine Überarbeitung der Exportrichtlinien von Rüstungsgütern noch die Beteiligung von Kapitalerträgen an der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme finden sich im Koalitionsvertrag. Auch nicht ein Ende des Zweiklassensystems in der Gesundheitspolitik. Aber wen nimmt das wunder? Weder hat die SPD einen Wahlkampf geführt, der einen Schwerpunkt auf diese Themen gelegt hätte. Noch ist die Basis der Partei revolutionär gestimmt, arbeitetet also auf einen Systemwechsel hin.

Kein Wunsch nach einem Kurswechsel

Das kann man bedauern, aber es bleibt festzustellen: Die große Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich offenbar ein tapferes „Weiter so“. Nicht etwa einen grundsätzlichen Kurswechsel. Wäre das anders, dann hätte es ein anderes Wahlergebnis gegeben.

Sollte die Große Koalition vier Jahre halten und Merkel bei den nächsten Wahlen nicht mehr als Spitzenkandidatin antreten – wer sagt, dass sie das nicht mehr tun wird? –, dann geht es tatsächlich um die Frage, wer nach ihr an der Spitze der Regierung steht. Das weiß auch Gabriel.

Welche Optionen bleiben ihm? Die charmante Festlegung auf Rot-Grün bedeutet nur: Er wird niemals Kanzler werden. So viel lässt sich von den Wahlen der letzten Jahre ablesen.

In den letzten Wochen ist viel – und erstaunlich oft sehnsüchtig – über das Experiment einer schwarz-grünen Koalition nachgedacht worden. Sigmar Gabriel dürfte die entsprechenden Leitartikel auch gelesen haben. Aber es ist nicht anzunehmen, dass er sich als Steigbügelhalter eines solchen Bündnisses versteht. Und plant: Jetzt machen wir mal vorübergehend eine große Koalition, unterdessen können sich die Grünen konsolidieren und reformieren, um dann zur Union zu marschieren.

Die Quadratur des Kreises

Nein, das wird er nicht wollen. Gabriel würde schon gerne selber Kanzler werden. Optionen wären bislang eine – von der SPD bereits angedeutete – Öffnung zur Linken hin oder ein Bündnis mit den Grünen und einer als Bürgerrechtspartei neu erstarkten FDP. Die ja nicht zwangsläufig für alle Zeiten aus dem Bundestag verschwunden sein muss.

Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, dass Sigmar Gabriel jetzt für die Energiewende verantwortlich ist. Er muss den Nachweis erbringen, den Kreis quadrieren zu können: keine allzu starke Belastung der Verbraucher, die Bereitschaft zum Konflikt mit den großen Stromerzeugern und Lobbyisten, Rücksicht – aber nicht zu viel Rücksicht – auf energieintensive Betriebe. Die Genossen in Nordrhein-Westfalen, denen am Erhalt der Kohle liegt, dürfen nicht vergrätzt werden, die Umweltschützer aber auch nicht. Und Brüssel schon gar nicht. Schwierig.

Aber die Energiewende bietet immerhin Gestaltungsspielraum. Im Finanzministerium hätte Gabriel nur den Part des ewigen Verweigerers und Nein-Sagers spielen können – das ist eine Rolle, die man von SPD-Granden bis zum Überdruss kennt und die wenig attraktiv ist. Der Versuch, die Energiewende hinzubekommen, ist ein noch riskanteres Spiel als der Mitgliederentscheid. Zugleich jedoch mindestens ebenso lohnend: Gelingt er, dann schlägt Gabriel den Grünen das Argument aus der Hand, sie müssten mit der Union koalieren, um dieses politische Ziel endlich zu erreichen.

Aber natürlich denken nicht nur die deutschen Sozialdemokraten über Machtoptionen nach. Sondern auch die Strategen der Unionsparteien. Ursula von der Leyen könnte – obwohl sie in weiten Teilen der Union ungeliebt ist – papabile sein, wenn sie nach Erfolgen in der Innenpolitik nun auch noch außenpolitische Kompetenz nachweist. Das Auswärtige Amt steht jedoch nicht zur Verfügung, also gibt es dafür nur das Verteidigungsministerium.

Auch Thomas de Maizière bleibt jedoch im Rennen. Sein Wechsel aus dem Verteidigungsressort zurück ins Innenministerium wird nicht als Scheitern interpretiert. Derzeit genügt das: nicht gescheitert zu sein. Zumal ja eben nicht klar ist, wie lang die jetzige Chefin noch im Amt bleiben will. Eine Palastrevolution wird – und können – weder von der Leyen noch de Maizière inszenieren. Für die überschaubare Zukunft bleibt also vieles erst einmal beim Alten. Aller Aufregung zum Trotz.

17 Dec 2013

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Bettina Gaus

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