taz.de -- 30 Jahre Dayton-Abkommen: „Es ist nie gut für Gespräche, wenn gleichzeitig getötet wird“

Mit dem Dayton-Abkommen endete 1995 der Bosnienkrieg. Der US-Amerikaner Christopher Hill nahm an den Verhandlungen teil. Was man aus ihnen auch für die Ukraine lernen kann.
Bild: 21. November 1995: Die damaligen Präsidenten Serbiens, Bosniens und Kroatiens, Slobodan Milošević, Alija Izetbegović und Franjo Tuđman

taz: Herr Hill, 1995, nach drei Jahren des brutalen Krieges in Bosnien, zwangen die USA die Kriegsherren an einen Tisch. Drei Wochen waren Milošević, Tuđman und Izetbegović isoliert von der Außenwelt. Sie selbst waren von Anfang an als Teil der US-Delegation in Dayton dabei. Wie war die Stimmung zu Beginn?

Christopher Hill: Die Atmosphäre war gut, es wurde viel gescherzt. Diese Leute kannten sich ja gut. In den ersten Tagen in Dayton hatten wir einige gemeinsame Treffen und ein berühmtes gemeinsames Abendessen im dortigen Luftfahrtmuseum. Ich erinnere mich, dass ich dort neben dem bosnisch-serbischen Politiker und später verurteilten Kriegsverbrecher Momčilo Krajišnik saß. Direkt über seinem Kopf hing eine Marschflugrakete von der Decke. Wir dachten: In ein paar Tagen bringen wir das unter Dach und Fach. Doch wir kamen zunächst gar nicht voran.

taz: Warum?

Christopher Hill: Alle beharrten nur auf ihren Standpunkten. Wir entschieden uns für sogenannte Proximity Talks: Wir trafen uns mit ihnen einzeln, nicht mehr gemeinsam. Nachdem es zu einer Einigung zwischen Kroatien und Serbien kam, gingen wir zum Hauptproblem über: der Karte von Bosnien.

taz: Bosnien war vor dem Krieg ein multiethnisches Land – die drei größten Gruppen waren Bosniak*innen, Serb*innen und Kroat*innen. Nach den blutigen Auseinandersetzungen und „ethnischen Säuberungen“ sollte das Land entlang ethnischer Linien in Entitäten geteilt werden.

Christopher Hill: Schon zwei Jahre zuvor hatte die Kontaktgruppe einen Plan vorgelegt: 51 Prozent des Landes für die kroatisch-bosniakische Föderation, 49 Prozent für die serbische Entität. Uns war wichtig, dass keine Menschen ihre Sachen packen und umsiedeln mussten. Gleichzeitig wollten wir das Prinzip etablieren, das im Nahen Osten als Rückkehrrecht bekannt ist: Wir wollten, dass Vertriebene wieder auf ihr Land zurückkehren können. So wurde die Karte immer komplexer.

taz: Kritiker*innen sagen, dass diese Machtteilung entlang ethnischer Linien zwar den Krieg beendet hat, aber auch ethnische Konflikte zementiert und einen dysfunktionalen Staat geschaffen hat.

Christopher Hill: Nein, diese Sichtweise lehne ich ab. Wir hatten keine Absicht, Probleme auf ethnischer Grundlage zu „zementieren“. Das haben die Beteiligten selbst getan. Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, wie brutal dieser Krieg war. Bis zu 200.000 Zivilist*innen wurden getötet, vielfach grausam ermordet. Ihre Farmen waren zerstört worden, ihre Kühe auf den Feldern getötet. Deshalb hat sich die internationale Gemeinschaft eingeschaltet. Kolleg*innen haben dabei sogar ihr Leben verloren. Es war nie unser Ziel, die Probleme „ethnisch“ zu verfestigen.

taz: Und trotzdem ist es geschehen.

Christopher Hill: Wir schufen die praktikabelste Struktur, die wir angesichts der Haltungen der Beteiligten schaffen konnten. Der Konflikt war sehr schwer zu lösen. Die Serb*innen hatten seit Jahrhunderten in Bosnien gelebt. Als die Deutschen sagten, es solle ein Referendum über Bosniens Zukunft geben, wurden die Serb*innen einfach überstimmt. Glauben Sie wirklich, wir saßen da und sagten: „Lasst uns eine komplizierte Struktur schaffen“? Nein, wir haben natürlich mit einer möglichst einfachen Struktur begonnen. Aber es war kompliziert und wir mussten weitere Ebenen hinzufügen. So kamen wir schließlich zu etwas, das man heute Republika Srpska nennt, wo Serb*innen leben konnten.

taz: Sind Sie damals davon ausgegangen, dass es diese Struktur 30 Jahre nach dem Kriegsende noch geben würde?

Christopher Hill: Die Hoffnung war, dass sich die Parteien über die Jahre von ethnischen zu themenbasierten Anliegen bewegen würden. Aber das liegt an ihnen – an den Bosniak*innen, Kroat*innen und Serb*innen. Sie haben versagt. Wir haben nie erwartet, dass Dayton 30 Jahre später noch existiert. Ich lehne die Vorstellung ab, dass Dayton sie zum Scheitern verurteilt hat.

taz: Hätte die internationale Gemeinschaft nicht trotzdem länger bleiben oder später ein „Dayton 2.0“ verhandeln müssen?

Christopher Hill: Die internationale Gemeinschaft, allen voran die EU, hat exzellente Arbeit bei der Nachbetreuung geleistet. Das Grundproblem ist bis heute: Die Bosniak*innen wollen einen Einheitsstaat. Die Serb*innen hingegen akzeptieren diesen nicht und wollen einen stark föderalen Staat, weil sie nicht unter Bosniak*innen leben wollen. [1][Der serbische Anführer Milorad Dodik] etwa beansprucht alle natürlichen Ressourcen der Republika Srpska für sich – entgegen der Dayton-Verfassung. Dieser Kreis ist schwer zu quadrieren. Die EU war sehr großzügig mit Hilfsgeldern, bei der Unterstützung von Institutionen. Ich glaube, dass die Bewohner*innen und Politiker*innen Bosniens nicht verstanden haben, dass es nun an ihnen ist, diese Probleme anzugehen – ohne immer auf die internationale Gemeinschaft zu zeigen und sich über ihre Nachbarn zu beschweren.

taz: Was kann die internationale Gemeinschaft tun, um den Prozess zu erleichtern?

Christopher Hill: Ich denke, dass die mächtigste Hebelwirkung, über die die EU in Bosnien verfügt, die Frage der EU-Mitgliedschaft ist. Die EU sollte dafür die Tür offen halten. Alle müssen sich darüber im Klaren sein, was das Ziel ist: ein multiethnisches Land, in dem alle zusammenarbeiten. Dodik hingegen hat den Prozess nur zu seinem eigenen Vorteil genutzt. Die EU hat richtig gehandelt indem sie Druck auf ihn und die Serb*innen ausgeübt hat. Ich befürworte einen Ansatz der „harten Liebe“. Es kann nicht sein, dass Sarajevo sich bei uns über Banja Luka beschwert, wir dann nach Banja Luka fahren, uns dort beschweren und uns die Beschwerden über Sarajevo anhören. Diese Probleme müssen viel direkter angegangen werden. Es geht hier nicht um Kinder, sondern um einen Staat.

taz: Können wir aus Dayton etwas für die Ukraine lernen?

Christopher Hill: Dayton fand statt, als der Krieg alle erschöpft hatte. Alle waren bereit für ein Ende. Das Problem in der Ukraine ist, dass Russland diesen Krieg mit großer Brutalität fortsetzt. Russland muss verstehen, dass es keine Ziele durch Krieg erreichen kann. Dafür müssen wir weiter die Ukraine unterstützen. Es ist nicht die Zeit, der Ukraine Zugeständnisse nahezulegen, wenn es keine russischen Signale für Zugeständnisse gibt. Das würde bedeuten, sie verhandeln mit sich selbst statt mit Russland.

taz: Welche Bedingungen müssen für Verhandlungen gegeben sein?

Christopher Hill: Russland hat kein Recht, über die zukünftigen Beziehungen der Ukraine zu bestimmen. Es ist schwer, die Konturen eines Friedensvorschlags zu sehen. Eines habe ich gelernt: Man muss Gesprächskanäle offenhalten und versuchen, das Gegenüber zu verstehen. Als wir einen Monat nicht mit [2][Milošević] sprachen, wurde er nur härter, weil er nur mit Jasagern redete. Rote Teppiche ausrollen ist nicht der Weg, aber Kommunikationkanäle offen zu halten, ist richtig.

taz: Und der Nahostkonflikt?

Christopher Hill: Das Wichtige an Dayton war: Es gab ein klares Verständnis, was erreicht werden sollte. Es ging nicht nur ums Kriegsende. Es ging darum, eine Karte zu zeichnen, verfassungsrechtliche Regelungen zu schaffen, die alle Gemeinschaften schützten. Als wir uns in Dayton trafen, war die Arbeit schon getan, alle kannten den Plan. Das Wesen einer guten Konferenz liegt in der Vorbereitung. Bezüglich Gaza ist besorgniserregend, dass es nicht einmal Einigkeit über eine Zweistaatenlösung gibt. Ein anderer Punkt: Es ist nie gut für Gespräche, wenn gleichzeitig getötet wird. Waffenstillstände scheitern aber meist, wenn es keinen adäquaten Weg nach vorn gibt. Der Waffenstillstand in Bosnien kam, nachdem wir die Umrisse einer Karte, einer Verfassung hatten. Waffenstillstände funktionieren nicht, wenn Leute denken, es gibt noch etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt.

taz: Was haben Sie in Dayton über das Beenden eines Krieges gelernt?

Christopher Hill: Alles liegt in der Vorbereitung. Wir waren gut vorbereitet. Es geht auch um gutes Zuhören: Sprechen Sie nicht mehr als 50 Prozent der Zeit. Zeigen Sie Respekt für die Sichtweisen aller – auch wenn Sie manche nicht respektieren. Menschen setzen ihr Leben für diese Dinge aufs Spiel. Es ist ziemlich unbeeindruckend, wenn ein Verhandler aus den USA kommt und die Bedenken der Menschen einfach abtut. Man muss sie anhören, verstehen, worüber sie reden, um bessere Vorschläge zu machen. Aber wenn man den Vorschlag hat, wenn die Dinge klar sind, muss man hart bleiben. In Dayton verstanden wir die Notwendigkeit, emotional involviert zu sein, aber gleichzeitig entschlossen bei dem, was getan werden muss.

21 Nov 2025

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AUTOREN

Jana Lapper

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