taz.de -- Kapitalismuskritik: Klasse gegen Egoismus

Der Kabarettist Jean-Philippe Kindler plädiert in „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ für eine radikale Repolitisierung.
Bild: Mit Farbe gegen den Kapitalismus

Auch auf dem Feld der Kapitalismuskritik könnte irgendwann einmal alles gesagt sein. Nur könnte es noch nicht bei allen angekommen sein. Dazu ist es auch immer wieder nötig, das Gesagte zusammenzutragen und für ein breites, gerne auch junges Publikum ansprechend zu verpacken. Eben das unternimmt der Kabarettist Jean-Philippe Kindler in seinem Buch „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“.

Im Zentrum steht für ihn die Beobachtung, dass im gegenwärtigen Kapitalismus auch viele Linke der neoliberalen Ideologie auf den Leim gehen, indem sie eine vorwiegend kulturell orientierte, [1][individualistische Form von Identitätspolitik über eine ökonomisch ausgerichtete Klassenpolitik stellen].

In diesem insbesondere auf Social-Media-Profilen zu beobachtenden [2][Fokus auf „Selflove“ und Antidiskriminierungskosmetik liege eine folgenreiche Entpolitisierung], die kapitalistische Ausbeutung nicht abzuschaffen, sondern allenfalls etwas diverser zu gestalten vermöge. Ausbeutung sei aber „keine Diskriminierungserfahrung wie jede andere auch“, schreibt Kindler, „sondern die materielle Grundlage für verschiedene Formen der Diskriminierung“.

Privatisierung der Politik

Dabei will Kindler aber keineswegs die Identitätspolitik pauschal abwerten. Es geht ihm darum, ihre Stärken bei der Formierung einer kollektiven Interessenvertretung von der kulturellen hin zur ökonomischen, gewissermaßen also zur Herausbildung einer neuen Klassenidentität – oder wie Marx es nannte, eines „Klassenbewusstseins“ – der Ausgebeuteten zu verschieben. Dazu möchte Kindler der Privatisierung der Politik und des restlichen Lebens eine radikale „Repolitisierung“ entgegensetzen.

So etwa bei den Themen Armut und Glück. Das von den Soziologen Eva Illouz und Edgar Cabanas so genannte „Glücksdiktat“ habe in neoliberalen Gesellschaften dazu geführt, dass ein permanenter Zwang zur Selbstzufriedenheit nicht nur die kapitalistische Ausbeutung am Laufen halte, sondern auch noch den Einzelnen die alleinige Verantwortung aufbürde, an den materiellen und psychischen Folgen nicht zu zerbrechen.

Während also am unteren Ende der kapitalistischen Nahrungskette Menschen infolge eines regressiv unterfinanzierten Gesundheitssystems sich immer häufiger sogar das Leben nehmen und selbst minimale Erhöhungen der Grundsicherung im politisch-medialen Mainstream als leistungslose Faulheitsprämie verteufelt werden, sind in den vergangenen zehn Jahren tatsächlich „leistungslos“ drei Billionen Euro Gewinn zu deutschen Vermietern geflossen und wird allein bis 2024 noch einmal dieselbe Summe ebenso „leistungslos“ vererbt werden.

Eine Repolitisierung solcher Verhältnisse würde bedeuten, sie nicht als „natürlich“, sondern als politisch geschaffen zu betrachten – und zu bekämpfen. Doch dazu müsste die Linke der neoliberalen Strategie der Vereinzelung konsequente „Gemeinsamkeitsangebote“ entgegenstellen.

Grabenkämpfe versus Klassenkampf

Sie müsste in „Versöhnung materialistischer und identitätspolitischer Kritik“ eine breite gesellschaftliche Verbündung auch mit denen schaffen, „die einem vielleicht nicht jeden Dienstag im Judith-Butler-Seminar begegnen oder das Geld haben, sich im Coworking Space den großen Hafermilch-Cappuccino für fünf Euro zu leisten. Andernfalls bleiben wir eine Hipster-Linke mit sozialdemokratischem Anstrich“, die sich lieber in interne Grabenkämpfe als in einen gesamtgesellschaftlichen Klassenkampf begibt.

Kindler bietet hier freilich keine ganz „neue Kapitalismuskritik“, wie der Untertitel es verspricht, aber doch eine neue Form der Ansprache, die der 1996 geborene Autor mit der pointierten Eklektik des Satirikers ins Werk setzt. Auch wenn er in Buch- wie Hörbuchfassung manchmal etwas gestelzt formuliert, bringt er dennoch einen bemerkenswerten politischen wie performativen Furor zur Geltung.

Er liefert damit weniger eine konkrete Anleitung als eine aufklärerische Anregung zum politischen Aktivismus, die dem Umstand Rechnung trägt, „dass die meisten Linken den Kapitalismus, den sie ja alle brav ablehnen, überhaupt gar nicht mehr zu verstehen versuchen“.

21 Nov 2023

LINKS

[1] /Nancy-Fraser-ueber-Populismus/!5402332
[2] /Identitaetspolitik-auf-der-Buchmesse/!5717068

AUTOREN

Tom Wohlfarth

TAGS

wochentaz
Politisches Buch
Klassenkampf
Kapitalismuskritik
Neoliberalismus
Identitätspolitik
Social Media
Diskriminierung
Armutsforschung
Glück
Gesellschaftskritik
Klassengesellschaft
Konsumgesellschaft
wochentaz
Schwerpunkt Armut
wochentaz
Berlin im Film
Faschismus
Rudi Dutschke

ARTIKEL ZUM THEMA

Daniel Burghardt, Elend und Emanzipation: Eine andere Geschichte des Elends

Der Erziehungswissenschaftler Daniel Burghardt analysiert eindringlich, warum das bloße Beharren auf Leiderfahrungen nicht zur Emanzipation führt.

Armut in den USA: Den Reichen den Reichtum sichern

Soziologe Matthew Desmond untersucht in seinem Buch die Armut in den USA. 38 Millionen Menschen können dort ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen.

Zonen für paranationalen Kapitalismus: Fragwürdige Fluchtfantasien

Freiheit ohne Staaten: Der kanadische Historiker Quinn Slobodian geht im Buch „Kapitalismus ohne Demokratie“ den marktradikalen Utopien auf den Grund.

Sobo Swobodniks Film „Geschlechterkampf“: Dasein ohne faule Kompromisse

Punch auf Punch: In „Geschlechterkampf“ durchquert Hauptdarstellerin Margarita Breitkreiz in einem atemlosen Rausch geschlechtliche Abgründe.

Faschismus durch künstliche Intelligenz: Gesellschaft als Maschine

KI wird zu weniger Arbeitsplätzen führen. Daran müssen wir uns gewöhnen. Aber eine von Maschinen beherrschte Welt wäre entmenschlicht und gefährlich.

Dutschke-Reden auf CD: Das raue Timbre der Revolte

Rudi Dutschke war ein begnadeter Redner. Jetzt lässt sich auf sechs CDs nachhören, wie er 1968 seine Zuhörer:innen in den Bann schlug.