taz.de -- Zensur in der Türkei: Kritische Bücher verschwinden

Der türkische Verlegerverband zieht eine erschreckende Bilanz der verbotenen Bücher im vergangenen Jahr. Auch Kinderbücher sind betroffen.
Bild: Der Vertrieb zweier Bücher des ehemaligen HDP-Chefs Selahattin Demirtaş wird verhindert

Vor wenigen Tagen hat der türkische Verlegerverband ein Resümee des Jahres 2020 veröffentlicht, in dem deutlich wird, dass im Windschatten der Coronakrise Zensur und andere Einschränkungen der Meinungsfreiheit noch einmal verschärft wurden. Besonders hervor stechen zwei Bücherverbote von Publikationen von Amnesty International Türkei. Beide sind eher lexikalische Werke zum Feminismus. Sie wurden nicht nur verboten, sondern darüber hinaus fabrizierte die Staatsanwaltschaft im letzten Oktober auch noch eine Anklage wegen Volksverhetzung gegen den amtierenden AI-Direktor.

Amnesty International steht bereits seit Längerem im Fokus der türkischen Justiz. [1][Seit 2017 laufen Prozesse gegen ehemalige Vorsitzende und GeschäftsführerInnen der internationalen humanitären Organisation.]

Nicht viel besser erging der sozialdemokratischen CHP, die in ihrem Parteiverlag zwei Bücher über besonders krasse Korruptionsaffären herausgeben wollte. Beide wurden verboten, gegen die Herausgeber laufen Ermittlungsverfahren.

Offene Fragen zum Putschversuch 2016

Noch einschneidender ist ein weiteres Buchverbot: Weil die regierende AKP bis heute eine effektive parlamentarische Untersuchung über den Putschversuch im Sommer 2016 verhindert, hatte die CHP ein Buch mit offenen Fragen zu dem Putschversuch, der das Land dramatisch veränderte, vorbereitet. Auch dieses Buch wurde verboten.

Fast schon zur Routine gehören Bücherverbote kurdischer Autoren oder Bücher aus kurdischen Verlagen. Als der Aram Verlag seine Bücher zu einer Messe nach Izmir schicken wollte, wurde gleich 52 Bücher beschlagnahmt und anschließend verboten. Selbst literarische Publikationen kurdischer Autoren werden verfolgt.

So hat der frühere Parteivorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, der seit vier Jahren wegen politischer Äußerungen in Untersuchungshaft sitzt, im Knast zwei Bücher mit Kurzgeschichten geschrieben, die sehr populär geworden sind. Die Bücher selbst sind nicht verboten worden, man versucht aber ihre Verbreitung zu verhindern. So wurde die [2][Stadtverwaltung von Istanbul, die 2019 von der Opposition erobert wurde], scharf angegriffen, weil sie die Bücher in ihrem Vertriebssystem angeboten werden.

Gezielte Troll-Kampagne

Mit einer gezielten Troll-Kampagne im Internet sollte die Stadt dazu gebracht werden, die Bücher aus dem Programm zu nehmen. Bislang hat sich allerdings Bürgermeister Ekrem İmamoğlu erfolgreich dagegen gewehrt.

Auffällig im literarischen Bereich sind zunehmende Verbote von Kinderbüchern. Allein im letzten Jahr wurden 13 Kinderbücher verboten. Als Grund wurde jedes Mal angeführt, die Bücher hätten einen gefährlichen obszönen Inhalt. Darunter sind auch Übersetzungen aus Deutschland.

Hintergrund ist die zunehmende Islamisierung der Türkei. Eine Kommission, die sich aus Vertretern des Sozial und Familienministeriums zusammensetzt, befindet bei allem Kinderbüchern, ob sie sich im Rahmen des Schicklichen bewegen.

6 Feb 2021

LINKS

[1] https://www.amnesty.de/tuerkei-fuer-die-meinungsfreiheit-der-tuerkei
[2] /Massenkundgebung-fuer-neuen-Buergermeister/!5590238

AUTOREN

Jürgen Gottschlich

TAGS

Türkei
Kurden
Literatur
Zensur
Istanbul
Verbot
Verlagswesen
Schwerpunkt Pressefreiheit
Performance-KünstlerIn
Opposition in der Türkei
Türkei
Belarus
Schwerpunkt Protest in der Türkei
taz.gazete

ARTIKEL ZUM THEMA

Medienlandschaft in der Türkei: Kein freies Wort mehr

Die Zerstörung der türkischen Medienlandschaft geht nicht nur auf das Konto Erdoğans. Doch der Präsident konsolidiert seine Macht über Propaganda und Zensur.

Performance als Livestream: Spuren des Widerstands

In „Das nackte Leben“ verarbeitet Serfiraz Vural spezifisch weibliche und spezifisch kurdische Lebenserfahrung zu einer Erzählung des Widerstands.

Verbotsverfahren gegen HDP in der Türkei: Frontalangriff auf die HDP

Die Staatsanwaltschaft will die kurdisch-linke HDP in der Türkei verbieten. Der Schlag hatte sich abgezeichnet – Grund sind Wahlerfolge der Partei.

Türkische Menschenrechtlerin verurteilt: Sechs Jahre Haft für Eren Keskin

Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe. Neben der bekannten Menschenrechtlerin sind in der Türkei drei weitere Personen verurteilt worden.

Zensur in Belarus: Literaturszene unter Druck

Leere Regale in Buchläden, beschlagnahmte Bücher, Verhaftungen: Der Kampf gegen kritische Gedanken in Belarus weitet sich aus.

Angriffe auf Popkultur in der Türkei: Kulturelle Paranoia

TV-Sender in der Türkei unterliegen schon der Zensur: kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Homosexualität. Jetzt sind Netflix und Social Media dran.

Tag des Journalismus in der Türkei: Zuerst zogen sie die Stecker

Mit dem Tag des Journalismus wird heute in der Türkei die Abschaffung der Zensur vor 112 Jahren gefeiert. Doch es gibt wenig zu feiern.