taz.de -- Kommentar Ende Wahlrechtsausschluss: Kein „Wähler-TÜV“ für niemanden

Niemand darf wegen einer Erkrankung oder kognitiven Behinderung vom Wählen ausgeschlossen werden. Eine überfällige Entscheidung.
Bild: Freie Wahl für alle: Laut Bundesverfassungsgericht darf niemand pauschal ausgeschlossen werden

Psychisch Kranke und Menschen mit kognitiven Behinderungen [1][dürfen nicht pauschal vom Wählen ausgeschlossen werden, hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt]. Das ist gut und war lange überfällig.

Überfällig ist es nicht nur, weil es in vielen europäischen Ländern keinen Wahlrechtsausschluss wie in Deutschland gibt. Sondern auch, weil in Deutschland bislang zwei Gruppen existierten: Da gibt es die Menschen mit kognitiven Einschränkungen, die unter gesetzlicher Betreuung „in allen Angelegenheiten“ stehen und [2][ebendeshalb nicht wählen dürfen]. Um diese Gruppe geht es in dem Urteil. Sehr viel größer aber ist die Gruppe der Demenzkranken, die über eine Vorsorgevollmacht von Angehörigen betreut werden und ihr Wahlrecht behalten, auch wenn sie ihre Familie nicht mehr erkennen.

Wann immer eine Wahl ansteht, wird für Demenzkranke in Deutschland zu Tausenden Briefwahl beantragt. Wer dann wirklich wo und warum das Kreuzchen macht, kann niemand überprüfen. Angeblich kommen aus Caritas-Heimen besonders viele Wahlzettel mit CDU-Kreuzchen, aus Heimen der Arbeiterwohlfahrt viele mit SPD-Kreuzchen, hat eine SPD-Politikerin mal vor Jahren in Bezugnahme auf Wahlhelferkreise erzählt.

Aber selbst wenn man unterstellt, dass WählerInnen mit starken kognitiven Beeinträchtigungen leichter manipulierbar sind, so darf das nie ein Grund sein, diese Gruppen von Wählen auszuschließen. Auch die Wahlentscheidungen von nichtbehinderten Menschen beruhen ja nicht immer auf tiefer Kenntnis der Parteiprogramme, sondern richten sich nach vagen Gefühlslagen, Sympathien, Vorurteilen. Es wäre lächerlich, wollte jemand Grenzwerte für eine Art „WählerInnen-TÜV“ einführen.

Der Ehrgeiz von Angehörigen, Begleitern, BetreuerInnen von kognitiv Beeinträchtigten sollte darin bestehen, die Wahlfreiheit der ihnen Anvertrauten zu stützen. Mit Infos, Gesprächen, Begleitungen. Wählen ist viel mehr als nur wählen: Es ist Aufregung, Anregung, Dazugehören. Hoffnung. [3][Inklusion]. Das gilt es zu schützen.

21 Feb 2019

LINKS

[1] /Beschluss-des-Bundesverfassungsgerichts/!5575209
[2] /Menschen-mit-Behinderung/!5417942
[3] /Tag-der-Menschen-mit-Behinderung/!5555136

AUTOREN

Barbara Dribbusch

TAGS

Wahlen
Bundesverfassungsgericht
Wahlrecht
Menschen mit Behinderung
Leben mit Behinderung
Hamburg
Bundestag
Leben mit Behinderung
Opposition
Israel
psychische Gesundheit
Burkhard Lischka
Lesestück Recherche und Reportage

ARTIKEL ZUM THEMA

Wählen mit Behinderung: „Ein Fehler im System“

Michel Arriens hat vor der Treppe eines Wahllokals gewählt, weil der Zugang nicht barrierefrei war. Ein Gespräch über seine Erlebnisse am Wahlsonntag.

Bundestag beschließt Gesetzesänderung: Vollbetreute dürfen wählen

Menschen mit Behinderungen, die in allen Angelegenheiten betreut werden, dürfen nun an Wahlen teilnehmen. Für die Europawahl kam die Reform zu spät.

Urteil zu inklusivem Wahlrecht: Stimmabgabe möglich

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Vollbetreute auf Antrag bei der Europawahl teilnehmen dürfen. Details sollen folgen.

Opposition will Stimmrecht schon im Mai: Behinderte Menschen sollen wählen

FDP, Linke und Grüne ziehen vor das Verfassungsgericht. Menschen mit Betreuer sollen schon an der Europawahl im Mai teilnehmen dürfen.

Barrierearmes Wohnen: Unterstützung aus dem 3D-Drucker

Ikea Israel und zwei NGOs stellen Erweiterungen für Möbel aus dem 3D-Drucker bereit. Die Extrateile sollen Menschen mit Behinderungen helfen.

Beschluss des Bundesverfassungsgerichts: Jetzt dürfen erst mal alle wählen

Vollbetreute Behinderte und psychisch kranke Straftäter dürfen nicht wählen. Das ist verfassungswidrig entschied nun das Bundesverfassungsgericht.

Tag der Menschen mit Behinderung: Forderung nach Wahlrecht für alle

Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung fordert, dass auch Menschen unter Vollbetreuung wählen dürfen. Die Regierung will handeln.

Menschen mit Behinderung: Vom Wahlrecht ausgeschlossen

Menschen mit Betreuung „in allen Angelegenheiten“ dürfen laut Bundeswahlgesetz nicht wählen. Wie willkürlich ist diese Regelung?