taz.de -- Start Ups in der Medienbranche: Gekommen, um zu bleiben
Den Medien geht die Luft aus? Quatsch. Die Szene entwickelt immer neue Projekte. Ein unvollständiger Überblick.
Sebastian Esser macht einfach weiter. „Ich muss leider alle enttäuschen, die schon immer wussten, dass Krautreporter nicht funktioniert“, sagt er. „Im Gegenteil: Ich werde das hoffentlich noch bis zur Rente weitermachen.“
Essers Projekt [1][Krautreporter] ist ein seltsames Phänomen. „Wir kriegen das wieder hin“, hatte der Journalist vor gut zwei Jahren zusammen mit zwei Dutzend Kollegen versprochen. Sie sammelten Geld für ihr Projekt und empfahlen sich als Retter des Onlinejournalismus: werbefrei, damit endlich wirklich unabhängig, und so ernsthaft hintergründig. Doch dann ging das Geld aus, Rückbau. Und jetzt plötzlich: Es läuft.
„Wir wachsen im Moment so stark wie noch nie“, schreibt Esser der taz. Er sei in Eile und notiert, inzwischen produziere sein Portal jeden Tag ein Stück: „Das wird auch so bleiben, selbst wenn wir weiter so stark wachsen.“ Das Angebot aktuell: von Nachdenklichem wie den „neuen Kindern des Bahnhof Zoo“ (jugendlichen Flüchtlingen) bis zu Konstruktivem wie der Empfehlung, Angst nach dem Attentat positiv zu nutzen.
Das alternative Modell Genossenschaft funktioniere „super“ und sichere Unabhängigkeit. 2017 will Esser wieder ausbauen. Seine Parole: „Weitermachen, weiterwachsen.
Niggemeiers Medienkritik
Einer, der mal ein Krautreporter war und davor auch Bildblog-Gründer, versucht seit einem Jahr selbst, ein Portal großzuziehen, von dem er und andere auch leben können: Stefan Niggemeier macht – zusammen mit Boris Rosenkranz – Medienkritik. Bei [2][Übermedien] kämpfen sie sich etwa durch den täglichen Eilmeldungswust wie nun zum Berliner Attentat („Was wir wissen – oder gerade für nicht ganz unwahrscheinlich halten“). Oft nörgeln sie und nerven so, manchmal aber schocken sie auch Kollegen – etwa, wenn die Medienkritiker plötzlich die „Tagesschau“ vor „Lügenpresse“-Rufen in Schutz nehmen statt in den drögen Chor der Pöbelnden und Prügelnden einzustimmen.
Mitgründer Rosenkranz feiert aktuell 2.150 Übonnenten. Beide gingen „optimistisch“ ins neue und für sie zweite Jahr, allein: „Damit wir – ausschließlich – davon leben können und Gastautoren zahlen, Cutter, Grafiker, all das, braucht es noch ein paar tausend Abos mehr.“ Pläne haben sie trotzdem oder gerade deshalb: Übermedien wolle „mehr auf guten Journalismus“ hinweisen, den Bundestagswahlkampf kritisch begleiten und sich „intensiv“ mit Lügen und Fakes befassen. Medienkritikexpansion also.
Dazu: mehr Videos. Ein Vorgeschmack bietet das simple wie wunderbare Sofastündchen, in dem sich Niggemeier mit Sarah Kuttner (und manchmal auch mit Hund) das Comeback der „Gilmore Girls“ reinziehen. Niggemeier: „Ich war die meiste Zeit genervt und habe trotzdem weitergesehen.“ So ist das mit „Zwei Seufzer für Stars Hollow“ auch.
Inzwischen ist auch der „Topf voll Gold“ Teil des Üniversums – nachdem er es im vergangenen Jahr mit Gemeinnützigkeit als Modell probiert, aber nicht geschafft hat. Er knöpft sich nun unter neuer Flagge die Methoden der Klatschpresse vor: „Prinz Harrys neue Freundin ist schon seit zwei Jahren Schwanger!“ Bei „Übermedien“ also auch 2017: Medienkritik am Fließband.
Gemeinnütziges Correctiv
Die Sache mit der Gemeinnützigkeit als Geschäftsgrundlage geht wiederum beim Recherchebüro [3][Correctiv] auf: Bald drei Jahre nach Gründung beschäftigt Chefredakteur Markus Grill, der im vergangenen Jahr vom Spiegel kam, 15 Rechercheure fest, dazu noch fünf sogenannte Pauschalisten. Sie streuen ihre Recherchen in die Szene: zum Flug MH17 kooperierten sie mit dem Spiegel, zur versickerten Hilfe für Syrien mit der ARD, zur Mafia in Deutschland mit RTL.
Gerade hat Correctiv in Nordrhein-Westfalen seinen ersten Regionalableger gegründet und mit Pharmaspezialist Grill an der Spitze das Ressort „Gesundheit“ ausgebaut. „Für das nächste Jahr planen wir größere Projekte über Klimawandel, über die neue Rechte und AfD, zu Pharmasponsoring an Ärzte und zu Verflechtungen in der Justiz“, kündigt Grill an, der weiter fleißig Geld von Stiftungen sammelt und monatlich zwischen 50 und 100 weitere Mitglieder begrüßt. 1.650 sind es inzwischen. Das Projekt gedeiht.
Viertausendherz mit Erfolg auf dem Markt
Komplettes Neuland haben in diesem Jahr ein paar Audioverliebte betreten: Christian Conradi und Konsorten haben mit [4][Viertausendherz] ein „Label für spannende und inspirierende Geschichten zum Hören“ gegründet, oder kurz: ein Podcast-Label. Ihr großes Ziel: Podcasts unabhängig von Sendern finanzieren, vor allem mit Werbung und Sponsoring – so, wie das in den USA bereits funktioniert.
Und tatsächlich: Der Markt springt an. Conradi erzählt stolz, dass sich die Werbetochter der ARD mit um die Vermarktung kümmert und nicht zuletzt Zugang zu großen Werbekunden mitbringt. Die Spots laufen mal vor, mal nach den einzelnen Episoden, mal vorproduziert, mal vom Moderator gesprochen. Mit dabei bereits: eine große Krankenkasse, ein Serviceportal, mehrere Filmverleiher.
„Es finden unter anderem Gespräche mit öffentlich-rechtlichen Hörfunksendern für Kooperationen und Koproduktionen statt“, berichtet Conradi, der selbst vor allem für Deutschlandradio Kultur arbeitet. Außerdem seien Auftragsproduktionen für Stiftungen und Streaming-Anbieter geplant – also denkbar etwa Spotify und Audible, die seit ein paar Monaten auch exklusive Inhalte einkaufen.
Zu bieten hat das Label mit Pionierstatus so einiges: Podcasts wie das porträtierende Interview „Elementarfragen“, die journalistische Experimentierfläche „Mixer“ oder Conradis „Systemfehler“, der nach den Lücken sucht, die unsere perfektionistische Gesellschaft Abweichungen noch lässt. So spricht einiges dafür, dass Viertausendherz ein Projekt ist, das bleiben wird.
Experimente im Kiezbau
Tja, und dann sind da noch diese jungen Angebote. [5][Bento] und [6][Ze.tt], die nun gerade mal einjährigen Ableger von Spiegel und Zeit – die einen bewusst auch logistisch Teil des Hamburger Spiegel-Verlags direkt am Haupteingang, die anderen ebenso gezielt ausgelagert ein paar Kilometer weiter von der gläsernen Zeit-Online-Redaktion in einem schrabbeligen Berliner Kiezbau. Und natürlich Funk, das junge Angebot von ARD und ZDF – in einem Turm am Mainzer Hauptbahnhof statt als Teil einer (Sende-)Anstalt.
Egal, wer über sie schreibt: Praktisch kein Kritiker ist Zielgruppe. Ob Tratschformate wie „Auf Klo“, Titel wie „Fickt euch!“ oder Sammlungen wie „Diese ehrlichen Postkarten zeigen: Wir alle pupen, bluten – und lieben Pizza“ nun der richtige Weg ist, erschließt sich dann auch dem Autor dieser Zeilen nur bedingt – und trotzdem findet auch er: Gut, dass es all diese Experimente gibt. Zumal alle drei Angebote unter das Pubertierende und Prollige und Putzige auch echte Inhalte mischen, von „So nutzen Rechte die Tat in Berlin für ihre Zwecke“ bis „#Ungefiltert – Facebooks Feeds von Links bis Rechts“, um der eigenen Filterblase zu entkommen. Deshalb gilt auch hier: Dringend weitermachen!
26 Dec 2016
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