taz.de -- Frontberichterstattung in der Ukraine: Ich bin eine Landesverräterin
Ukrainische Journalisten stecken in der Klemme. Wie berichten Medienmacher von einer Front, die das eigene Land entzweit?
In meinem Land ist Krieg. Darf ich trotzdem die Regierung kritisieren? In meinem Land ist Krieg, aber ich weiß, dass ukrainische Sicherheitsdienste Gefangene foltern. Ist es angebracht, darüber zu berichten? In meinem Land ist Krieg, die korrupte Elite hört aber nicht auf, sich schamlos aus dem Budget zu bedienen. Kann ich jetzt darüber schreiben?
Diese Fragen stellen sich mir und vielen anderen ukrainischen Journalisten. Die russische Aggression gegen die Ukraine hat das Bewusstsein von vielen verändert, Journalisten sind da keine Ausnahme.
Die Krim-Annexion und der Krieg im Donbass haben eine hitzige Debatte über die Rolle und die Aufgaben von Journalisten ausgelöst. Es gibt keinen Konsens darüber, was eigentlich passiert. Geht es um einen territorialen Konflikt, um eine ukrainisch-russische militärische Auseinandersetzung, oder ist die Ukraine nur ein Schlachtfeld im Krieg zwischen Russland und dem Westen? Es gibt keine Einigkeit darüber, wie die Menschen bezeichnet werden sollen, die der ukrainischen Armee gegenüberstehen. Sind das russische Soldaten, lokale Separatisten, Terroristen oder Söldner? Die eine Antwort existiert nicht.
Worüber man sich jedoch einig zu sein scheint, ist die Tatsache, dass die Ukraine ausschließlich patriotische Journalisten braucht. Keine Profis, die objektiv schreiben, sondern Sprachrohre der Heroisierung von allem, was ukrainisch ist und den Feind dämonisiert. „Man darf doch jetzt nicht die Armee und die Gesellschaft entmutigen!“ – diese Reaktion bekomme ich oft, wenn ich mich als Journalistin kritisch äußere.
Die Gesellschaft erwartet Heldengeschichten
Die Machthabenden geben den Ton an, und die Gesellschaft erwartet lauter Heldengeschichten. Sicherlich gibt es diese Helden. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Die andere will keiner sehen, die Probleme werden schlicht verschwiegen.
Plünderungen, Raubüberfälle, eindeutige Gesetzesverstöße: so etwas gibt es auch auf der ukrainischen Seite. Meistens werden diese Verbrechen vertuscht. Die vom Krieg ermüdete Gesellschaft sucht nach einer Rechtfertigung, indem sie den Gegner verteufelt. Die Berichterstattung der ukrainischen Medien über die annektierte Krim und den Donbass besteht im Wesentlichen aus mehr oder weniger subjektiven Publikationen, die die Menschen in den okkupierten Gebieten dämonisieren. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Der wichtigste ist, dass ukrainische Journalisten keinen Zugang zu diesen Territorien haben. Außerdem ist der Status dieser Menschen nicht geklärt. Sind das ukrainische Bürger oder Feinde und Kollaborateure? Das wird so lange offenbleiben, bis wirklich Waffenruhe herrscht und der Status der besetzten Gebiete geklärt ist.
Der jüngste Skandal um die Website „Friedensstifter“ liefert einen guten Beleg für die Polarisierung innerhalb der ukrainischen Gesellschaft. Nach offizieller Lesart haben ukrainische Computerfreaks ein Portal der prorussischen Separatisten gehackt und sich Zugang zu Informationen über Journalisten verschafft, die für die okkupierten Territorien akkreditiert waren. Öffentlich geworden sind Namen, Passkopien und private Angaben von über 4.000 Journalisten – auch von mir. Größtenteils handelt es sich um ausländische Journalisten und einige wenige ukrainische, die in den okkupierten Gebieten undercover gearbeitet haben.
Druck und Hindernisse
Die Reaktion darauf in der Öffentlichkeit und in Kreisen angepasster Journalisten war eindeutig. Die Aufgelisteten wurden als Verräter und Kollaborateure abgestempelt, die Akkreditierung prangerte man als Beleg für eine Zusammenarbeit mit den Separatisten an. Die ukrainische Leserschaft hat sehr schnell vergessen, dass sie unter einer totalen Informationsblockade gerade diesen Journalisten den Zugang zu einigermaßen objektiven oder zumindest alternativen Informationen über die okkupierten Territorien zu verdanken hat.
Außerdem gibt es neuerdings auch reale Hindernisse für die Berichterstatter in der Kampfzone – für Kriegskorrespondenten obligate Trainings, die das ukrainische Verteidigungsministerium durchführt. Ohne die Teilnahme daran bekommen Journalisten, die an die Front wollen, ab 2017 dafür keine Genehmigung mehr. Bei den Trainings geht es um Sicherheitsmaßnahmen und um „richtigen Journalismus“, so wie ihn der ukrainische Staat versteht. Was sagt uns das? Der Krieg wird noch lange dauern. Und der Journalismus soll endgültig ein Instrument der Gegenpropaganda werden.
Inwieweit ist es überhaupt noch möglich, professionelle Berichterstattung in der Ukraine zu gewährleisten? Besonders wenn der Leser an objektiven Informationen kein Interesse hat. Mit diesem Dilemma gehen ukrainische Journalisten unterschiedlich um. Ein Teil gibt offen zu, nationale Interessen und patriotische Gefühle über Professionalität zu stellen. Andere quittieren ihren Job und schließen sich freiwilligen Verbänden an, die in den Konfliktzonen konkrete Hilfe leisten.
Es gibt aber auch eine dritte Gruppe, und zu dieser zähle ich mich: Journalisten, die es darauf ankommen lassen, über die Ereignisse im Lande professionell und objektiv zu berichten. Sie nehmen dabei in Kauf, dafür scharfe Kritik einstecken zu müssen. Diese dritte Gruppe ist die kleinste und die unbeliebteste in der Ukraine.
Ein Beispiel: Zu den Opfern des bewaffneten Konflikts im Osten der Ukraine gehören auch rund 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge aus dem Donbass. Diese Menschen sind enormen Strapazen ausgesetzt und bekommen so gut wie keine Unterstützung vom Staat. Ist es angebracht, die Entbehrungen und die Hoffnungslosigkeit dieser Menschen in einem Bericht zu thematisieren? Denn ein solcher Artikel würde unweigerlich dem Image der Ukraine schaden und neue Ängste bei den Menschen schüren, die womöglich vorhaben, die okkupierten Territorien jetzt noch zu verlassen. Meine Antwort: Ja! Denn das wäre zwar unangenehm, aber dennoch die Wahrheit.
Viele ukrainischen Redaktionen lehnen jedoch solche Themen ab. Gibt es in dieser Situation eine Lösung? Ich denke, ja. Wenn ein Journalist nicht imstande ist, seinen persönlichen Interessenkonflikt zwischen „Bürger“ und „Profi“ zu lösen, soll er den Beruf wechseln. Eine bittere Wahrheit, aber sie ist immer noch besser als eine süße Lüge.
Aus dem Russischen von Irina Serdyuk
16 Dec 2016
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