taz.de -- Parlamentswahl in der Türkei: Absolute Verhältnisse
Die AKP von Präsident Erdoğan hat sich die alleinige Mehrheit zurückerobert. Die pro-kurdische HDP schafft es erneut ins Parlament.
Istanbul taz | Das Konzept von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ist aufgegangen: durch den neuerlichen Krieg gegen die kurdische PKK-Guerilla nationalistische Stimmen zu gewinnen. Insgesamt hat sein Angstwahlkampf, nachdem nur eine absolute Mehrheit der AKP für Stabilität und Wirtschaftswachstum sorgen kann, Erfolg gehabt.
Die konservativ-islamische Partei erreichte 49,5 Prozent der Stimmen und kommt damit auf 316 Sitze im Parlament, deutlich mehr als die für die absolute Mehrheit benötigten 276 Mandate – aber nicht ausreichend, um ohne fremde Hilfe ein Verfassungsreferendum durchzusetzen, um dem von Erdoğanangestrebten Umbau des Landes zur Präsidialrepublik zu vollziehen.
Das liegt daran, dass es die kurdisch-liberale HDP abermals schaffte, die 10-Prozent-Hürde zu überspringen. Mit 10,35 Prozent der Stimmen bleibt sie im Parlament. Die größten Stimmenverluste hatte die nationalistische MHP verzeichnet.
Landesweit war die Wahl ruhig und ohne größere Zwischenfälle verlaufen. Vor allem im Osten und Südosten des Landes hatte es vor den Wahlen große Bedenken gegeben, ob in der anhaltenden gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen der kurdischen Guerilla PKK und der Armee überhaupt reguläre Wahlen abgehalten werden können.
Durch Absperrungen zum Wahllokal
Als Sicherheitsmaßnahme waren vor allen Wahllokalen in den kurdischen Gebieten gepanzerte Polizeiwagen vorgefahren worden. Maskierte Spezialeinheiten von Polizei und Gendarmerie waren vor den Wahllokalen postiert. In Diyarbakır, der größten von Kurden bewohnten Stadt im Südosten, mussten die WählerInnen ein ganzes Spalier von Zäunen und Absperrungen überwinden, um ins Wahllokal gehen zu können.
Trotzdem war der Andrang enorm. Seit den frühen Morgenstunden – die Wahllokale öffneten im Osten des Landes bereits um 7 Uhr – strömten die Leute zur Abstimmung. Doch nicht nur im Osten des Landes war die Wahlbeteiligung sehr hoch. Überall in der Türkei war es den WählerInnen ein großes Anliegen, Präsident Erdoğan, der für den neuerlichen Wahlgang verantwortlich ist, die Meinung zu sagen.
Aus Wahllokalen an der Ägäisküste, wo Erdoğan die meisten Gegner hat, wurden Wahlbeteiligungen von über 90 Prozent gemeldet. Die Befürchtung, viele Wähler würden die freien Tage, die dadurch entstanden waren, dass die Regierung die Arbeitstage zwischen dem 29. Oktober, dem Republikfeiertag, und der Wahl am 1. November zu Ferientagen erklärt hatte, für einen Kurzurlaub nutzen, statt zur Wahl zu gehen, bewahrheitete sich nicht.
Allerdings hat nicht die allgemeine Wahlbeteiligung darüber entschieden, dass es der regierenden AKP und Präsident Erdoğan letztlich gelungen ist, die absolute Mehrheit, die die Partei im Juni verloren hatte, wieder zurückzugewinnen. Entscheidend war eine Reihe von Wahlkreisen, in denen das Ergebnis im Juni sehr knapp war und sich durch rund 100.000 Stimmen eine neue Sitzverteilung ergeben könnte.
Wichtig waren auch die Stimmen, die Türken im Ausland, vor allem in Deutschland und den Beneluxländern, abgegeben haben. Diese Auslandswahlen wurden einige Tage vor der Wahl in der Türkei abgeschlossen, und anschließende Wählerbefragungen ergaben, dass sich die AKP einen großen Stimmenanteil der Auslandstürken sichern konnte. Kritiker Erdoğans befürchten darüber hinaus, dass gerade bei den Auslandsstimmen, die in der früheren Handelskammer in Ankara zwischengelagert wurden, Manipulationen möglich waren.
1 Nov 2015
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