taz.de -- Debatte Syrischer Bürgerkrieg: Eine Vision für Syrien

Das Gebot der Nichteinmischung wird zur Farce, wenn ein Staat seine Bevölkerung massakriert. In Syrien könnte der Frieden erzwungen werden.
Bild: Nachdenken: Die internationale Staatengemeinschaft könnte den Krieg durchaus beenden, wenn sie denn wirklich wollte

In einer Welt, in der es halbwegs vernünftig zuginge, würde demnächst Folgendes passieren: Nach einem Telefongespräch, in dem Barack Obama dem russischen Präsidenten glaubwürdig zusichern würde, dass Russland für mindestens fünfzig Jahre seinen Hafen an der syrischen Mittelmeerküste nutzen könne, stimmt Putin einer Resolution des Sicherheitsrats zu, woraufhin auf Basis der internationalen Norm der „Responsibility to protect“ (R2P) eine internationale Interventionstruppe ermächtigt würde, den Bürgerkrieg in Syrien so schnell wie möglich zu beenden.

Nur wenige Tage später zerstören US-amerikanische Drohnen und Marschflugkörper die Stellungen der syrischen Regierungstruppen, erobern französische und britische Fallschirmjägertruppen erst den Flughafen von Damaskus, um dann nach heftigen Straßenkämpfen die Kontrolle über ganz Damaskus zu übernehmen, wo kurz darauf ein aus Indien stammender muslimischer Hoher Kommissar, unterstützt von deutschen und südafrikanischen Polizeitruppen, die Herrschaft über das von den UN neu etablierte Protektorat Syrien übernimmt.

Eine zufällige Kontrolle brasilianischer Polizeikräfte stöbert in einem Kellerloch Aleppos den geflohenen Diktator Baschar al-Assad auf, der unverzüglich verhaftet und auf dem schnellsten Weg nach Den Haag geflogen wird, wo die neue Chefanklägerin am Internationalen Gerichtshof, Fatou Bensouda aus Gambia, schon an einer Anklageschrift gegen ihn arbeitet.

Die Zahl ziviler Todesopfer unter der syrischen Zivilbevölkerung ist in diesen zwei Wochen erheblich gesunken; es bleibt die heikle Aufgabe, die letzten, noch nicht zersprengten Reste radikalislamistischer Kommandos aufzuspüren und zu verhaften – eine Aufgabe, die US-amerikanische Truppen übernommen haben, wobei es vor allem in den von Sunniten besiedelten Gebieten immer wieder zu Übergriffen und Menschenrechtsverletzungen kommt.

Mehr als ein Jahrzehnt später, 2024, wird die Flagge der UN in Damaskus feierlich eingeholt; die Intervention hat – dank erheblicher Finanzspritzen aus den Emiraten und aus Saudi-Arabien – ein befriedetes Land, eine aufblühende Wirtschaft und eine stabile, wenn auch autoritäre Konkordanzdemokratie verschiedener ethnischer und religiöser Gruppen zustande gebracht.

Gewiss: Die Intervention stieß in den Gesellschaften der Weltgemeinschaft, zumal des Westens, immer wieder auf Kritik: Rechtspopulistische Parteien erklärten, dass die „Araber“, wenn sie sich denn umbringen wollten, das bitte auch tun sollten, schließlich könne man sich nicht um alles kümmern; linke Parteien argumentierten tief besorgt, dass Krieg grundsätzlich kein Mittel sein könne und es doch sinnvoller sei, die aufgebrachten Mittel zur Hebung der internationalen Sozialstandards einzusetzen, während die Feuilletons der westlichen Welt im Einklang mit postkolonial gesinnten Intellektuellen – vor allem aus den USA – in ausufernden Debatten scharfsinnig darüber räsonierten, ob hier nicht ein ganz besonders infamer Fall von orientalistischem, hinter totalitärer Diskurshegemonie verborgenem Neokolonialismus vorliege.

Das Ende des nationalstaatlichen Zeitalters ist besiegelt

Doch so wird es nicht kommen! Und zwar nicht nur aus Gründen mehr oder minder nachvollziehbarer nationaler Interessen, sondern vor allem deshalb nicht, weil die im Jahr 2005 von der UN-Vollversammlung beschlossene „Responsibility to protect“ kein zwingendes Völkerrecht, sondern „lediglich“ eine wegweisende Norm ist. Gleichwohl: Mit den Paragrafen 138 und 139 dieses Dokuments ist – jedenfalls von der Idee her – das Ende des nationalstaatlichen Zeitalters und mit ihm der Gedanke einer unverletzlichen, letztbestimmenden (national)staatlichen Souveränität besiegelt.

Und zwar deshalb, weil damit das absolute Interventionsverbot, wie es Art. 2(7) der Charta der Vereinten Nationen erlassen hat, neu bestimmt und damit durchbrochen worden ist. Seit 2005 gilt: Als Folge eines Verstoßes gegen seine Schutzverantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung verwirkt ein Einzelstaat seinen rechtlichen Anspruch auf Nichteinmischung in seine internen Angelegenheiten!

Gleichwohl mache man sich nichts vor: Auch diese Rechtsentwicklung folgt materiellen Interessen. Auch der grauenhafte Giftgastod syrischer Kinder findet mediale Aufmerksamkeit vor allem deshalb, weil der „failed state“ Syrien inmitten der für die USA noch interessanten Ölgebiete des Mittleren Ostens und in nächster Nähe einer für die EU ob ihrer Bindungen an die Türkei und Israel wichtigen Region liegt.

Im Fall von weiter abgelegenen „Hinterhöfen“ der Weltgesellschaft hat massenhaftes Morden und Sterben niemanden interessiert und wird auch weiterhin niemanden interessieren. Gewiss: Jede(r) der inzwischen mehr als 100.000 Toten in Syrien ist eine, einer zu viel. Indes: Der vor allem im Osten des Kongo seit 2002 geführte „Bürgerkrieg“ und seine Folgen haben vermutlich – fernab aller Öffentlichkeit – seither etwa 4 Millionen Opfer gekostet: Alte, Kinder, Frauen – ein Gemetzel, das allemal mit dem Dressieren von Kindern zu Kampfmaschinen und mit der regelhaften, massenhaften Vergewaltigung von Frauen einhergeht.

Es scheint, als sei der Rohstoffbedarf der Weltwirtschaft in dieser Region durch das Gemetzel nicht etwa gefährdet, sondern – im Gegenteil – durch den schwunghaften Handel mit unterschiedlichen Warlords geradezu garantiert.

Ein kaum lösbares Problem für Linke

Jenseits dessen, was derzeit in Syrien vor allem die USA unternehmen können, um das Gemetzel zumindest zu dämpfen, käme es für eine künftige Bundesregierung vor allem darauf an, in den Gremien der internationalen Gemeinschaft dafür einzutreten, die von den UN als Norm angenommene „Responsibility to protect“ in zwingendes internationales Recht umzuwandeln. Das aber setzt eine glaubwürdige Bereitschaft dazu voraus, sich gegebenenfalls an entsprechenden bewaffneten Einsätzen selbst zu beteiligen.

Das ist für traditionalistisch argumentierende Linke nach wie vor ein kaum lösbares Problem. Sie könnten sich bei ihrer Ablehnung einer entsprechenden Interventionspolitik immerhin auf Immanuel Kant und seine 1795 verfasste Schrift „Zum ewigen Frieden“, und zwar auf den dort postulierten fünften, den sogenannten „Präliminarartikel“ stützen, wo es heißt: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen.“

Allerdings: Im diskutierten Fall ist die Forderung des Denkers aus Königsberg schon deshalb unerheblich, weil weder in Syrien noch im Kongo sinnvoll von alledem zu sprechen ist. Was dort jeweils herrscht, ist nicht „Staat“, sondern „Chaos“, nicht „Regierung“, sondern „Anarchie“, nicht „Verfassung“, sondern „Tyrannei“.

Umgekehrt gilt: Für Kant war es eine moralische Pflicht der Menschheit, aus dem Naturzustand heraus in einen Rechtszustand zu treten – wozu es gelegentlich einer gewaltsamen Geburtshilfe bedarf. Dass sich um diese Aufgabe niemand reißt, ist in einem postheroischen Zeitalter nur zu verständlich.

Im Übrigen ist die Idee einer „Responsibility to protect“ vor etwas weniger als dreitausend Jahren in genau jener Region, in der der syrische Bürgerkrieg tobt, erstmals artikuliert worden. So lesen wir in Amos 1,3 – für unseren Geschmack durchaus gewalttätig – Folgendes:

„So spricht der Herr: Wegen drei Vergehen von Damaskus, ja wegen vier widerrufe ich es nicht: Weil sie Gilead gedroschen haben mit eisernen Walzen, werde ich Feuer werfen in Hasaels Haus, dass es verzehre die Paläste Ben Hadads, werde zerbrechen die Riegel von Damaskus, ausrotten, wer thront in Bikeat Awen und den Stabhalter von Bet Ewen.“

26 Aug 2013

AUTOREN

Micha Brumlik

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