taz.de -- Germanwings-Crash: Das hätte man doch merken müssen!

Die Aufarbeitung beginnt. Mit unsinnigen Forderungen. Wenn Gesellschaften nach unfehlbaren Vorbildern suchen, ist das selten erfreulich.
Bild: Und da man erst hinterher klüger ist, haben Schuldzuweisungen und wohlfeile Appelle einen unangenehmen Beigeschmack.

Hätte sich diese Katastrophe verhindern lassen? Diese Frage wird nach jeder Tragödie gestellt, und die Antwort lautet fast immer gleich: Ja, natürlich hätte sie sich verhindern lassen. Aber meist eben nur dann, wenn bereits vorher alles bekannt gewesen wäre, was sich danach herausgestellt hat.

Darin unterscheidet sich ein Verkehrsunfall nicht von einem Amoklauf oder einer Gasexplosion. Und da man erst hinterher klüger ist, haben Schuldzuweisungen und wohlfeile Appelle einen unangenehmen Beigeschmack. Zumal neue Lösungen für Probleme auch neue Gefahren in sich bergen können.

Im Falle des Copiloten der Germanwings-Maschine, die bisherigen Erkenntnissen zufolge von ihm absichtlich in einen Berg gesteuert worden ist, gilt das vor allem für die Forderung nach regelmäßiger psychologischer Begutachtung von Piloten.

In stundenlangen TV-Sondersendungen zum Thema zeigten sich Experten verschiedener Fachrichtungen immer mal wieder fassungslos angesichts der Tatsache, dass dies bislang nicht stattfindet. Da konnten Psychologinnen und Psychologen noch so oft darauf hinweisen, dass ihre Disziplin keine mathematisch genaue Wissenschaft ist und eine seriöse Diagnose kaum möglich ist ohne die Bereitschaft der Untersuchten zur Mitarbeit. Niemand schien das hören zu wollen.

Der war depressiv? Das hätte man doch merken müssen!

Schön wär’s. Nach einem Suizid ist das persönliche Umfeld des Toten in den allermeisten Fällen schockiert, selbst dann, wenn „irgendwie“ bekannt war, dass er oder sie „nicht so gut drauf“ war. Was wäre die Folge, wenn Piloten künftig regelmäßig zum Psychologen geschickt würden? Müsste man dann nicht auch Busfahrer, Ärztinnen, Lkw-Fahrer und Elektrikerinnen auf ihren Geisteszustand hin untersuchen – also alle Berufsgruppen, die Menschenleben in Händen halten? Kaminkehrer nicht zu vergessen.

Will man eine diagnostizierte – und, wenn möglich: therapierte – Gesellschaft? Gibt es einen Anspruch der Öffentlichkeit, dass Psychologen oder Psychiater jederzeit über Beziehungsprobleme, Erschöpfungszustände und allgemeine Unlustgefühle informiert werden müssen? Falls sich ein Meinungsbild herauskristallisieren sollte, das diese Fragen bejaht: Dann möchte man doch eigentlich nur auswandern. Möglichst in eine sehr dünn besiedelte Wüste.

Zwangsuntersuchung, dreimal die Woche?

Selbstverständlich wäre es wünschenswert, Mechanismen zu entwickeln, die verhindern, dass Krankschreibungen folgenlos vernichtet werden können, wie das möglicherweise im Fall des Copiloten der zerschmetterten Germanwings geschah. Aber letzte Sicherheit könnten auch neue Prüfungsmethoden nicht gewährleisten.

Der Mann hätte ja einfach beschließen können, medizinische Hilfe gar nicht erst in Anspruch zu nehmen. Und dann? Zwangsuntersuchung, dreimal die Woche? Mit Weitermeldung an den Arbeitgeber? Man möchte sich nicht ausmalen, wer noch bereit wäre, als Pilot zu arbeiten.

Der Wunsch, dass der Freitod ein Zeichen über die eigene Person hinaus setzen möge, ist so selten nicht. Sogar aus der internationalen Luftfahrt sind mehrere Fälle bekannt. Es ist schwer verständlich, dass deutsche Verantwortliche nun immer wieder erklären, ein Fall wie der jetzige habe bislang außerhalb ihrer Vorstellungskraft gelegen. Sie hätten ihre Fantasie doch gar nicht bemühen müssen. Die Lektüre der Tagespresse wäre schon hilfreich gewesen, von einem gut funktionierenden Archiv ganz zu schweigen.

Den Suizid als Fanal gibt es auch in anderen Zusammenhängen. Wenn ein Teenager in einem Einkaufszentrum um sich schießt und offenbar wünscht, irgendwann von Polizisten selbst getötet zu werden. Wenn ein Geisterfahrer sein Fahrzeug auf der Autobahn absichtlich frontal in den Gegenverkehr lenkt. Wenn jemand sein Haus in der erkennbaren Hoffnung in die Luft sprengt, die eigene Familie könne danach nur noch tot geborgen werden.

Vom Prinzip her ist keiner der oben genannten Fälle weniger furchtbar als die absichtsvolle Tötung der Germanwings-Passagiere – schon gar nicht für die jeweiligen Angehörigen. Aber natürlich gibt es Gründe dafür, dass eine Flugkatastrophe erheblich größere Aufmerksamkeit auf sich zieht als andere Formen des erweiterten Suizids.

Weitere Faktoren

Da ist zum einen die hohe Zahl der Opfer. Es gibt im nichtmilitärischen Bereich wohl keine andere Möglichkeit, so viele Leute umzubringen wie mit einem Flugzeug. Weitere Faktoren kommen hinzu. Der Besuch eines Einkaufszentrums ist für die allermeisten Leute weniger angstbesetzt als ein Flug, bei dem man gezwungenermaßen Vertrauen in die Piloten setzen muss. Wenn dieses Vertrauen grundsätzlich erschüttert ist, dann wird es schwierig, dieses Verkehrsmittel zu benutzen. Hinzu kommen Gesichtspunkte, die weitaus weniger leicht definierbar, aber nicht weniger wichtig sind.

Gemeinwesen, in denen Religiosität tief verankert ist, müssen sich weniger häufig mit dem Problem eines solchen erweiterten Suizids – vom Märtyrertod einmal abgesehen – auseinandersetzen als säkularisierte Gesellschaften. Die Angst vor dem ewigen Höllenfeuer kann Wunder wirken. Und so wahr es ist, dass selbst diese Angst einen Freitod nicht verhindern kann, wenn die Verzweiflung nur groß genug ist, so wahr ist auch: Man will im Hinblick auf die Ewigkeit wenigstens nicht noch zusätzliche Schuld auf sich laden. Wenn überhaupt, dann bringt man doch lieber nur sich selbst um, als dass man weitere Leute mit in den Tod reißt.

In säkularen Gemeinwesen, in denen weder der Pastor noch sonst jemand eine absolute Autorität für sich beanspruchen kann, verliert das Höllenfeuer seinen Schrecken. Zugleich wächst – in Ermangelung transzendenter Glaubwürdigkeit – das Bedürfnis nach Helden, deren zumindest weltliche Integrität nicht infrage zu stellen ist. Wohin richtet sich eigentlich dieses Bedürfnis, wenn man nicht mehr sicher sein kann, dass die Helden der modernen Zeit – die Kapitäne von Kreuzfahrtschiffen und die Pilotinnen von Verkehrsflugzeugen – den Ansprüchen gerecht werden?

Vermutungen sind erlaubt

Sicher werden wir das erst nach Jahren wissen. Aber Vermutungen sind erlaubt, und sie stimmen nicht optimistisch. Wenn Gesellschaften sich auf die Suche nach unfehlbaren Vorbildern begeben haben, dann war das Ergebnis selten erfreulich.

Es ist nicht nur nützlich, sondern sogar zwingend geboten, dass Verantwortliche für die Luftfahrt nach der Germanwings-Katastrophe überlegen, wie ähnliche Fälle künftig verhindert werden können. Allerdings stimmt die Geschwindigkeit misstrauisch, mit der jetzt Lösungsmöglichkeiten präsentiert werden. Zumal diese Lösungsmöglichkeiten sehr kostengünstig sind.

Einen Steward ins Cockpit zu setzen, während die Pilotin das Klo aufsucht: das ist billig zu haben. Warum baut man eigentlich nicht einfach ins Cockpit eine Toilettenkabine ein? Weil das den Raum für Passagiere – also für zahlende Kunden – verringern würde? Ja, vielleicht ist schon allein diese Überlegung eine bösartige Unterstellung. Aber, sowenig man auch bisher weiß, etwas steht fest: Nach dem Unfall der Germanwings-Maschine muss alles – alles – überhaupt nur Mögliche geschehen, um Misstrauen gegen menschliches Handeln abzubauen.

28 Mar 2015

AUTOREN

Bettina Gaus

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