taz.de -- Vor der Parlamentswahl in der Türkei: Dreist, dreister, Erdogan

Den Präsidenten schert es nicht, dass er laut Verfassung Zurückhaltung üben muss. Er braucht bei der Wahl jede kurdische Stimme – auch in Deutschland.
Bild: „Tayyip go home!“ – Anti-Erdogan-Demo am Sonntag in Karlsruhe.

ISTANBUL taz | Ministerpräsident Ahmed Davutoglu war schon da, Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu ebenfalls. Am Sonntag folgte dann der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan persönlich. Alle sind sie im Vorfeld der Parlamentswahl, die am 7. Juni stattfindet, auf Wahlkampftour in Deutschland, denn seit vergangenem Freitag dürfen die im Ausland lebenden Türken wählen. Von den rund drei Millionen wahlberechtigten Türken in Europa leben rund die Hälfte in Deutschland.

Während die Auftritte der verschiedenen türkischen Parteiführer im Ausland zur normalen Wahlkampfroutine gehören, empfanden viele Türken den Auftritt von Erdogan am Sonntag in Rheinstetten bei Karlsruhe als Skandal. Tausende demonstrierten bereits Stunden vor dem Beginn der Rede Erdogans (siehe Kasten). Denn der Präsident ist laut Verfassung zur politischen Neutralität verpflichtet und darf damit keinerlei Wahlkampf für eine Partei machen.

Erdogans illegaler Wahlkampfauftritt vertieft nach Meinung des Vorsitzenden der türkischen Gemeinde Deutschlands, Gökay Sofuoglu, deshalb auch die Spaltung der hiesigen Community. „Der Präsident kommt, um Wahlkampf zu machen. Dass er sich einmischt, ist nicht angebracht“, sagte Sofuoglu der Nachrichtenagentur dpa.

Doch für Erdogan ist es nicht das erste Mal, dass er mit Wahlkampfauftritten gegen die Verfassung verstößt. Wiederholt hat er bereits in der Türkei Kundgebungen zur Unterstützung seiner alten Partei AKP abgehalten, so auch in der kurdischen Stadt Diyarbakir vor zehn Tagen.

Erdogan: nach Belieben Steuergelder einsetzen

Als der Spitzenkandidat der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtas, ihm daraufhin unzulässige Einmischung und den Missbrauch von Steuergeldern vorwarf, gab Erdogan dreist zurück, er sei mit 52 Prozent zum Präsidenten gewählt worden und könne deshalb nach Belieben Steuergelder einsetzen.

Dass Erdogan ausgerechnet in die Kurdenhochburg Diyarbakir gereist war, ist kein Zufall. Er wirbt um die Stimmen konservativer Kurden, die in der Vergangenheit häufig AKP gewählt haben, jetzt aber eher zur HDP tendieren. Für Erdogans Zukunft ist es entscheidend, dass die HDP die undemokratisch hohe 10-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament nicht schafft.

Denn wenn die HDP am 7. Juni als vierte Partei ins Parlament kommt, ist eine verfassungsändernde Mehrheit, die Erdogan bei der Parlamentswahl erreichen möchte, illusorisch. In diesem Fall wäre der Versuch, das parlamentarische System der Türkei durch ein autoritäres Präsidialsystem mit Erdogan als Präsident zu ersetzen, gescheitert.

Prokurdische linke HDP

Deshalb ist die spannendste Frage der bevorstehenden Wahl nicht so sehr, wie viele Stimmen die AKP oder die größte Oppositionspartei CHP bekommt, sondern welches Ergebnis die prokurdische linke HDP erzielt. Und da die HDP in allen seriösen Meinungsumfragen um die 10 Prozent kreist und deshalb wenige Stimmen den Ausschlag geben können, ist Deutschland interessant.

Von den knapp 1,5 Millionen Wahlberechtigten sind einige Hunderttausend Kurden. Bei der Präsidentschaftswahl im August 2014 gingen nur wenige von ihnen an die Wahlurnen, zu vorhersehbar war Erdogans Erfolg. Doch dieses Mal zählt jede kurdische Stimme für die HDP, und jede kurdische Stimme, die Erdogan für die AKP gewinnen kann, mindert die Chancen der HDP, über 10 Prozent zu kommen.

So könnten ausgerechnet die Kurden in Deutschland den Unterschied ausmachen – wenn sie denn wählen gehen. Seit Wochen wirbt die HDP bereits intensiv dafür, dass die Kurden an die Urne gehen. Demnächst wird sicher noch einmal HDP-Spitzenkandidat Demirtas in Deutschland erscheinen.

10 May 2015

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Jürgen Gottschlich

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