taz.de -- Schusswaffenopfer in Chicago: Amerikas Trauma
Mittags kommt der Anruf: schwarzer Mann, Schusswunden. Vier Mal versuchen die Ärzte, das Herz des Mannes zu reanimieren. Ein Besuch im Traumazentrum.
CHICAGO taz | Fünf ist keine gute Zahl. Vier wäre besser. Oder wenigstens sechs. Aber nicht fünf. Fünf bedeutet Suchen für die Ärzte im Traumazentrum des John-H.-Stroger-Jr.-Krankenhauses in Chicago. Die Kugel einer Waffe hat immer eine Eintritts- und eine Austrittswunde. Eine gerade Zahl. Ist die Zahl ungerade, wurde eine Wunde übersehen – oder die Kugel steckt noch im Körper des Opfers.
An diesem Abend hat der 23-jährige Afroamerikaner mit den fünf Löchern im linken Oberschenkel Glück. Zwar steckt die Kugel noch im Körper, aber das Röntgenbild zeigt, dass sie nicht bis zum Hüftknochen gewandert ist, sondern kurz vorher im Gewebe stecken blieb. So ungefährlich, wie es für eine Kugel im Körper eben geht. Die Suche ist beendet. Die Chirurgin wird die Kugel nicht aus dem Körper entfernen, der Eingriff könnte mehr Schaden anrichten als hilfreich sein.
Das Traumazentrum im Stroger, einem kommunalen Krankenhaus, sieht aus wie der „Emergency Room“ der gleichnamigen Serie, die nach diesem Vorbild gebaut wurde. Eine Notaufnahme für schwer und lebensbedrohlich verletzte Patienten. Als die Sanitäter die Kleidung des Patienten zusammenraffen, fällt eine Kugel heraus. Das Beweismittel wird in eine kleine braune Tüte gesteckt und mit rotem Beweisband verschlossen. Es liegt im Traumazentrum so selbstverständlich im Regal wie Verbandsmaterial.
Stich- und vor allem Schussverletzungen weisen 30 Prozent der Patienten hier auf. Die vier Patienten eines Autounfalls, die kurze Zeit später eingeliefert werden, sorgen für weniger Adrenalinschub bei den Chirurgen und Ärzten, die es gewohnt sind, fast täglich nach Kugeln im Körper der Patienten suchen. „Natürlich ist es absurd, wie viele Patienten wir hier behandeln, die angeschossen wurden“, sagt Liz Gwinn.
Die 31-jährige Chirurgin ist im letzten Jahr ihrer Facharztausbildung und wird sich ab Juli als Traumaärztin spezialisieren. Sie liebt ihren Job. Eigentlich wollte sie Kinderärztin werden, bis sie das erste Mal im OP stand. „Ich mag es, dass Chirurgen Dinge reparieren können“, sagt Gwinn. „Außerdem bin ich aggressiv.“ Und lacht.
Man muss für diesen Job geschaffen sein, für die 24-Stunden-Schichten, die in der Regel 30-Stunden-Schichten sind, für das Warten und Nichtstun in ruhigen Momenten und für die Konzentrationsleistung, wenn sechs oder acht Patienten gleichzeitig betreut werden müssen. Man muss dafür geschaffen sein, Patienten zu verlieren. Und immer wieder zu retten.
14 Betten stehen im Chicagoer Traumazentrum, einem der größten des Landes. Etwa 5.700 Patienten wurden hier im vergangenen Jahr behandelt. Sechs Traumachirurgen und zwei Spezialisten für Brandverletzungen sind fest angestellt, hinzu kommen diverse Ärzte in Ausbildung, Krankenschwestern, Pfleger und weiteres Personal. Pro Schicht gibt es einen verantwortlichen Chirurgen, Dr. Frederic Starr macht diesen Job seit zehn Jahren. Er wirkt alles andere als aggressiv. Eigentlich wollte er Onkologe werden, hatte schon die komplette Forschungsarbeit getan, als er merkte: „Das ist mir zu depressiv.“
Mörderischer Januar
Also wechselte er in die Traumatologie und arbeitet seither in einer der stressigsten Abteilungen der USA. Chicago ist die drittgrößte Stadt des Landes, Waffengewalt gehört zum Alltag. Allein im Januar dieses Jahres wurden in Chicago 43 Menschen ermordet– der tödlichste Januar in der Stadt seit elf Jahren. Im Februar waren es 14 Menschen. Die Verletzten werden nicht gezählt.
Stroger ist eins von 6 Krankenhäusern im Chiacagoer Raum mit einem Traumazentrum und durch seine Lage im Westen gut erreichbar von den Gang-Vierteln der Stadt aus. Das Traumazentrum war das erste dieser Art im Land, die Abläufe sind streng einstudiert, neben den 14 Betten gibt es zwei Schockräume, eine Beobachtungs- und eine Intensivstation. „Wir folgen einem Protokoll, je nach Art der Verletzung, und jeden Morgen um 8 Uhr machen wir eine gemeinsame Bettenrunde mit der nächsten Schicht, um so kontinuierlich wie möglich zu arbeiten zu können“, erklärt Frederic Starr.
Bei Schussverletzungen am Kopf reagieren die Ärzte anders als bei solchen am Oberkörper. Doch zu Beginn steht immer die Frage: Wo kommen die Blutungen her? Es gilt Ein- und Austrittslöcher zu zählen, Blutdruck im Blick zu behalten. Alles andere ist vom Einzelfall abhängig. „Natürlich hilft Erfahrung, wie in jedem Bereich der Medizin“, sagt Starr. Mehr Erfahrung mit Waffen und was sie dem menschlichen Körper antun können, hat neben dem Team im Stroger-Krankenhaus kaum jemand in den USA.
Es ist kurz nach 21 Uhr, Frederic Starr ist seit 13 Stunden im Dienst und der anstrengende Teil der Schicht steht ihm noch bevor. Gang-Schießereien finden in der Regel nicht am Tage statt, sondern nachts, am Wochenende, wenn es warm ist. Bei Regen gehen nicht so viele Menschen raus. Eine pragmatische Rechnung für einen Job, den die Ärzte ebenfalls pragmatisch sehen: Leben retten. Die Verletzungen bewerten, nicht den Akt dahinter. „Ich behandle jeden Patienten gleich“, sagt Starr.
Doch der Vater von zwei Kindern räumt auch ein, dass dies nicht immer gelingt. Sosehr alle Ärzte hier versuchen, alles zu vergessen, sobald die Krankenhaustür nach dem Dienst hinter ihnen zufällt. „Wenn es Kinder sind, ist es emotional sehr hart, denn sie sind wirklich unschuldig.“
In vielen anderen Fällen sind die Hintergründe einer Schussverletzung unklar. Starr kann damit gut leben. „Manchmal will ich es gar nicht wissen und manchmal ist es besser, es nicht zu wissen.“
Der 23-jährige Afroamerikaner mit den fünf Einschusswunden im linken Bein trägt um den Knöchel desselben Beins eine elektronische Fußfessel. Er ist auf Bewährung, die Polizei erklärt später, auf den Mann sei geschossen worden, während er auf seiner Veranda saß. Er war erst vor Kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden und soll die Täter gekannt haben.
Für Frederic Starr und sein Team spielt das schon keine Rolle mehr. Der nächste Patient wartet, die nächste Verletzung. In dieser Nacht gibt es keine Schussverletzungen mehr; einer hat eine Stichwunde im Oberkörper, die von den Ärzten versorgt werden muss, die Autounfallpatienten müssen behandelt werden. Außerdem hatten die Blackhawks ein wichtiges Eishockey-Spiel. „Ein Samstagabend ist nie ruhig“, sagt Dr. Starr nur. Man gewöhnt sich dran, er hat es im Griff.
Handschuhe wegwerfen, Weitermachen
Ein anderer Tag, ein anderes Team, neue Opfer. Der gleiche Alltag: Waffen. Der Anruf kommt um kurz nach 14 Uhr: mittelalter afroamerikanischer Mann mit mehreren Schussverletzungen. Für einen Moment scheint sich alles etwas zu verlangsamen, dann verlagert sich alle Aufmerksamkeit in einen der zwei Reanimationsräume.
Kittel überziehen, Mundschutz umbinden, Intubationsbesteck bereitlegen, Medikamente griffbereit haben, Infusionen checken. Die Sanitäter haben mit der Herzmassage auf dem Weg ins Krankenhaus begonnen, einer der Ärzte übernimmt, als der Mann um 14.10 Uhr eingeliefert wird. Knapp ein Dutzend Ärzte und Schwestern geht an die Arbeit, überwacht von Dr. Kimberly Joseph, die das Traumazentrum leitet und an diesem Tag die diensthabende Ärztin ist.
„Haben wir einen Puls?“ –„Nein.“ – „Weitermachen.“
Adrenalin spritzen. Nie die Herzmassage unterbrechen. Drei Minuten warten. Wieder Adrenalin spritzen. Vier Mal versuchen die Ärzte, das Herz des Mannes mit Hilfe von Adrenalin wieder zum Schlagen zu bringen. Erfolglos. Zeitpunkt des Todes: 14.17 Uhr. Er hatte mindestens elf Schusswunden an Kopf und Oberkörper. Kittel abstreifen, Handschuhe wegwerfen. Weitermachen.
Die Krankenschwestern kümmern sich um den Toten und bringen ihn in die Rechtsmedizin. Dann säubern sie den Raum, in dem blutige Verbände neben Plastikfolie von Spritzen und einem einzelnen Turnschuh liegen. Die Ärzte sind bereits bei der Papierarbeit. Für die Polizei, die Rechtsmedizin, die Krankenhausunterlagen. „Die genaue Ursache des Todes wird die Rechtsmedizin feststellen“, sagt Kimberly Joseph, die seit 1993 im Traumazentrum arbeitet.
Die Leiterin und ihr Team können nichts gegen die Waffen tun, doch sie stellen sich die Systemfrage: Wie kann die Arbeit optimiert werden, um möglichst viele Patienten zu retten? Und kann man lernen, die Schwere der Verletzungen zu mildern? Geht das bei Gewehren und Pistolen überhaupt? „Bei Autounfällen haben wir viel dazugelernt“, sagt Joseph. Den Nutzen von Gurten, den Unsinn von abstehenden Kühlerfiguren, die Menschen bei Unfällen aufspießen können. „Wenn es um Waffen geht, haben wir das noch nicht geleistet“, sagt die Ärztin. Es gebe noch keine Erhebungen, Daten. Also muss Josephs Arbeit so gut wie möglich sein. Alles versuchen, immer.
„Rauchst du? – Nur Gras“
Tyrone wird um kurz nach halb acht abends eingeliefert, der Verband an seinem linken Arm ist blutdurchtränkt. Leise wimmert er, während er von der Transportliege in Bett Nummer 6 verlegt wird. „Ruft meine Großmutter an“, bittet er eine Krankenschwester.
„Bist du schon einmal angeschossen worden?“ – „Nein.“
„Hast du getrunken?“ – „Nein.“
„Rauchst du? – Nur Gras, keinen Tabak.“
Standardfragen. Ob die Angaben stimmen, wissen die Mediziner nie. Manchmal vergessen die Patienten, dass sie schon einmal angeschossen wurden.
Die Ärzte werden ihre Fragen innerhalb weniger Stunden noch zwei weiteren Männern stellen, die angeschossen wurden. Auch sie sind Afroamerikaner. Der einzige Weiße an den zwei Abenden im Stroger-Krankenhaus hat Frakturen, weil er beim Feiern vom Balkon gefallen ist.
Tyrone hat drei Schusswunden. Eine ungerade Zahl. Mehr Morphium, um den Arm für das Röntgenbild besser bewegen zu können. Die Schmerzmittel helfen nur bedingt. Doch das Bild muss sein. Es zeigt, dass die Splitter der Kugel in Tyrones Ellenbogen stecken. Er muss operiert werden, der Orthopäde kommt, um den Arm für die Nacht zu bandagieren, die OP kann erst am nächsten Tag stattfinden. In der Spätschicht ist das Krankenhaus schlechter besetzt, es ist zu riskant, einen OP-Saal mit einer nicht lebensbedrohlichen Verletzung zu blockieren und ein Team von Ärzten dort zu binden.
Nachdem die Polizei mit dem 22-Jährigen gesprochen hat, kommen seine Großmutter und seine Schwester. Zwei Mal sei auf ihn geschossen worden, sagt Tyrone aus. „Ich kannte den Schützen nicht.“ Es müsse ein Versehen sein. Das ist es immer.
„Ich will nur weg von der Gewalt“, sagt Tyrone. Doch man wird ihn später wieder nach Hause schicken, zurück in die Gegend, in der er angeschossen wurde. Nachdem ihn die Ärzte behandelt und seinen Arm repariert haben. Vom Traumazentrum aus wird er noch am gleichen Abend auf Station verlegt. Der Job von Liz Gwinn und den anderen Notfallärzten ist getan. Der nächste Fall wartet. Die nächste Kugel. Weitermachen. Weitersuchen.
16 Jul 2013
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