taz.de -- Gewalt in Syrien: Auf Suweidas Straßen
Nach den Zusammenstößen im Südwesten Syriens Ende Juli machte unsere Autorin schmerzhafte Entdeckungen in ihrem Viertel. Doch sie schöpfte auch Hoffnung.
Am 24. Juli, nachdem ich tagelang die [1][Kämpfe auf den Straßen] meines Viertels vom Fenster aus beobachtet hatte, beschloss ich mein Haus zu verlassen. Das war nicht einfach. Ich hatte Angst vor Scharfschützen und Minen und davor, dass ich jemanden, den ich kannte, tot in der Ecke liegen sehen würde. In den vergangenen Tagen hatte ich mich gefragt, ob meine Verwandten, Freund:innen und Nachbar:innen unversehrt geblieben waren. Ob ich die Straßen von Suweida jemals wieder so sehen würde, wie ich sie kannte. Ob ein Leben hier noch möglich war.
[2][Suweida] war inzwischen zu einem [3][Katastrophengebiet] erklärt worden. Viele Gerüchte über den Ursprung der heftigen Zusammenstöße zwischen drusischen Milizen, sunnitischen beduinischen Stämmen und syrischen Regierungstruppen, bei denen laut Syrischer Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) mehr als 1.200 Menschen, die meisten aus der drusischen Gemeinschaft, getötet wurden, kursierten. Auch hunderte Kinder, Frauen und Männer waren verletzt und entführt worden. Ich hatte gesehen, dass syrische Regierungstruppen, unterstützt von sunnitischen Beduinenmilizen, die Stadt von Westen her angegriffen, belagert und ihre Bewohner:innen in Panik versetzt hatten.
Vorsichtig ließ ich die Haustür hinter mir ins Schloss fallen. Meine Straße wirkte fremd. Überall gab es jetzt Schlaglöcher im Asphalt und Einschusslöcher in den Häusern. Die vielen Zedernbäume, die früher grün und üppig den Bürgersteig säumten, waren mit Staub bedeckt und sahen so aus, als wären sie plötzlich gealtert. Viele Häuserwände waren mit wütenden Parolen gegen die Drusen und mit Treueschwüren gegenüber Übergangspräsident al-Scharaa beschmiert. Die meisten Geschäfte waren geplündert worden. Die Regale leer, die Fensterscheiben zerbrochen, auf den Böden lagen leere Verpackungen und alte Kleidung. Ich versuchte, diesen Anblick mit meinen Erinnerungen an mein altes Viertel abzugleichen.
Hier war die Bäckerei, in der ich jeden Morgen Brot gekauft hatte, jetzt ohne Tür und ohne die vielen Mehlsäcke, die sonst hier standen. Dort war die Apotheke, die früher bis spät in die Nacht beleuchtet war. Jetzt war alles dunkel, so als hätte es das Geschäft nie gegeben. Die Apothekerin, eine junge, freundliche Frau, die immer viel Zuversicht ausgestrahlt hatte, war gerade damit beschäftigt, die Überreste eines Holzregals, das vor das Geschäft geworfen worden war, aufzusammeln. Sie wirkte müde. Die eigene Apotheke war nach Jahren des Studiums und harter Arbeit die Erfüllung ihres Kindheitstraums gewesen. Jetzt stand sie in den Trümmern und sagte: „Das Wichtigste ist, den Laden wieder zu öffnen, die Menschen brauchen Medikamente.“ Neben ihr kehrte ein junger Mann den Müll vor seinem kleinen Haushaltswarenladen mit den Worten: „Wir haben keine andere Wahl, als das wieder aufzubauen, was zerstört wurde“.
Ein paar Ecken weiter blieb ich vor dem Geschäftszentrum stehen, in dem ich jahrelang gearbeitet hatte. Der Ort, an dem meine Kollegen und ich früher mit viel Tatendrang und Lebensfreude Schulungen für junge Menschen veranstaltet hatten, hatte sich in ein seelenloses Gebäude mit verkohlten Wänden, Möbelresten und zersplitterten Glasscheiben verwandelt.
Schließlich erreichte ich das Haus meines Onkels in einem stark umkämpften Wohnviertel. Tagelang hatten sich meine Verwandten darin versteckt gehalten, das Licht ausgeschaltet und jede Minute gezählt, so als wäre sie die letzte. Während der Bombardierungen hatten wir ein einziges Mal telefoniert, wobei meine Tante wie ein verzweifeltes Kind geweint hatte und uns von den Leichnamen der Nachbarn erzählte, die erschossen worden waren und nun seit Tagen am Eingang des Hauses lagen. Dass meine Familie diese Situation überlebt hatte, glich einem Wunder.
Noch immer roch die Luft schwefelig nach Schießpulver und der glimmenden Asche der Feuer, die überall gebrannt hatten. Dennoch empfand ich sie als reine Luft, jetzt da die Waffen verstummt waren.
Was in meiner Stadt geschehen war, war ein schwerer Rückschlag für den Traum der Syrer:innen von einem freien Land nach Assad. Und doch gab es Momente der Hoffnung. Auf dem Heimweg sah ich Kinder auf der Straße, die mit ihren Fahrrädern lachend um die Wette fuhren – so, als hätte das Leben von Neuem begonnen. Und auch die Menschen in meiner Nachbarschaft machten weiter in dem Glauben, dass ihre Heimat wieder aufgebaut werden könne – nicht allein mit Steinen, vielmehr mit der Entschlossenheit zu leben. So wie die ältere Frau, die ich an einem Wassertank traf, an dem sie einen Eimer befüllte. Sie sagte: „Das Leben ist stärker als der Tod. Wir werden hierbleiben, egal was passiert.“
25 Sep 2025
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