taz.de -- Kinotipp der Woche: Genügend Raum

Anthropologin, Autodiaktin, Beobachterin: Das Arsenal widmet der französischen Filmemacherin Claire Simon eine umfassende Werkschau.
Bild: Kommen und Gehen am Bahnhof in Simons Doku „Géographie humaine“ (2013)

Bahnhöfe sind spannende Orte. Gerüche, Gewusel, Menschen aller Art – wo kommt der wohl her und wo fährt die wohl hin? Über so ein Bahnhofstreiben könnte man glatt mal einen Dokumentarfilm drehen. Das hat sich auch die französische Regisseurin Claire Simon gedacht, die in ihrer Dokumentation „Géographie humaine“ (2013) versucht, den Menschen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen am Gare Du Nord aufhalten, dem meist frequentierten Bahnhof Europas, näher zu kommen.

Sie selbst oder ihr Freund Simon quatschen Leute, die interessant wirken oder auch nicht, einfach an und lassen sich deren Geschichten erzählen. Da ist der Verkäufer an einem Backstand, der eigentlich davon träumt, groß in der Pariser Kunstszene aufzutrumpfen. Da ist der Mann von der Putzkolonne aus Afrika, der schon über 30 Jahre in Paris lebt, aber nie Franzose werden wollte und eigentlich endlich wieder zurück in seine Heimat möchte. Und da sind die Geschäftsleute aus Großbritannien, die hier nur für einen Moment verweilen und dann weiter müssen, um irgendwo in der Welt großartige Deals abzuwickeln.

Die Regisseurin Claire Simon zeichnet mit ihrem Bahnhofsportrait eine Art Paris en miniature. Die Obdachlose mit Hund, die Migranten und die Reichen, alle verbindet sie miteinander in diesem kleinen Kosmos und bringt sie auf eine Ebene. Französische Politiker und Politikerinnen könnten sich ruhig mal diesen Film ansehen. Sie könnten etwas lernen.

Claire Simon, die seit mehr als 40 Jahren Filme dreht, Dokumentation genauso wie Spielfilme, macht Dokus der alten Schule. Sie beobachtet und verklärt nicht, sie hält sich selbst zurück, kommentiert nicht und lässt dem Betrachter genügend Raum, sich selbst seinen Teil zu denken. Diese Doku-Form stirbt ja gerade aus, wenn man sich diese aufgeregten Investigativ-Reportagen bei den Öffentlich-Rechtlichen so anschaut, wo man als Zuschauer immer schön an die Hand genommen und in nur eine Denkrichtung manövriert wird.

Bis zum 30. Juni zeigt das [1][Kino Arsenal] eine Werkschau dieser Filmemacherin, die zumindest in Deutschland immer noch eher ein Geheimtipp ist.

Filmverrücktes Frankreich

Wie in „Géographie humaine“ kreist sie auch in „Le concours“ (2016) mit ihrer Kamera einen bestimmten Ort und die Menschen, die diesen besuchen ein – eine bestimmte Erzählung entwickelt sich auch hier ganz nebenbei. Sie zeigt in dieser Dokumentation, wie es so an der renommierten Pariser Filmhochschule La Fémis zugeht, die elitär ist, bei der sich – filmverrücktes Frankreich! – jeden Jahr aber dennoch Tausende voller Hoffnung bewerben. Man ist dabei, wenn sich Aspiranten den strengen Auswahlverfahren stellen und wieder lässt Simon am liebsten ihre Portraitierten einfach erzählen, von ihren Motivationen, sich an einer Filmhochschule wie dieser durchsetzen zu wollen etwa.

Dramaturgische Spannungsbögen und Zuspitzungen sind rar in Simons Filmen. Kommen aber auch vor. Etwa in „Coûte que coûte“ (1995), wo die Regisseurin über Monate hinweg ein kleines Unternehmen bei Nizza begleitet hat, das Fertiggerichte für Supermärkte herstellt. Nur laufen die Geschäfte leider nicht so, wie es sein sollte. Mitarbeiter mussten bereits entlassen werden, aber am Ende jeden Monats steht die übrig gebliebene Belegschaft dennoch immer vor derselben Frage: wird es überhaupt noch weiter gehen? Das ist Drama total und eine Story, die zwar aus dem echten Leben gegriffen ist, aber doch wirkt, als käme sie aus einer Netflix-Serie.

21 Jun 2023

LINKS

[1] https://www.arsenal-berlin.de/kino/filmreihe/formen-des-realen-filme-von-claire-simon/#future-244

AUTOREN

Andreas Hartmann

TAGS

taz Plan
Kino Berlin
Werkschau
Filmreihe
Arsenal Kino
taz Plan
Filmgeschichte
Kolumne Durch die Nacht
Kulturpolitik
taz Plan
Clubkultur

ARTIKEL ZUM THEMA

Kinotipp der Woche: Auf Augenhöhe

Die Sommer Berlinale zeigt noch einmal einige Festivalhighlights, darunter der diesjährige Gewinner des Goldenen Bären, „Sur l'Adamant“.

Kinotipp der Woche: Paranoid im Thriller

Das Kino in der Brotfabrik zeigt mit „Die drei Tage des Condors“ und Serpico“ Thriller aus den 70ern, die auf die Presse als Korrektiv setzen.

Kolumne Durch die Nacht: Jazz muss anders funktionieren

Nicht nur musikalisch, auch diskursiv: auf der fünften Berliner Jazzwoche werden ab Freitag Machokult und unfaire Gagen thematisiert.

Kulturförderung für junge Erwachsene: Kulturpass geht an den Start

Konzerte, Bücher, Museum: 18-Jährigen steht ab Mittwoch ein Freibetrag von 200 Euro für Kultur zur Verfügung, verwaltet über eine App.

Kinotipp der Woche: Ein paar Stockwerke drunter

Die Reihe „Optische Literatur“ zeigt Werke aus der ehemaligen Filmabteilung des Literarischen Colloquiums Berlin, von Ehe-Epos bis Scheidungsdoku.

Berliner Clubkultur im Parlament: „Nachhaltiges Feiern im Fokus“

Die SPD-Abgeordnete Tamara Lüdke bringt mit Kollegen anderer Fraktionen ein „Parlamentarisches Forum für Clubkultur“ auf den Weg. Start ist am Donnerstag.