taz.de -- Massaker in Äthiopien: Wie in einem Völkermord

Menschenrechtskommission wirft Tigray-Milizionären vor, im Ort Mai-Kadra mindestens 600 Menschen bestialisch getötet zu haben.
Bild: Die schwangere Eileen Alfao aus Tigray lebt jetzt in einem Flüchtlingslager im Sudan

Berlin taz | Tigrayische Milizionäre, unterstützt von Tigrays Sicherheitskräften, sollen das größte bisher bekannte Massaker [1][im Konflikt um die Kontrolle Tigrays] zwischen den regionalen Machthabern und Äthiopiens Zentralregierung begangen haben.

Die anerkannte äthiopische Menschenrechtskommission (EHRC) spricht [2][in einem am Dienstag veröffentlichten Bericht] von mindestens 600 Toten als Ergebnis eines „vorsätzlichen und sorgfältig koordinierten“ Angriffs auf die nicht-tigrayische Bevölkerung [3][des Ortes Mai-Kadra] am 9. November. Manche Flüchtlinge im Sudan hatten zuvor gegenüber Journalisten die äthiopische Armee beziehungsweise Milizionäre der Nachbarregion Amhara verantwortlich gemacht, die Mai-Kadra am 10. November eingenommen hatten.

Mai-Kadras 40.000 bis 45.000 Einwohner sind nicht nur Tigrayer, sondern auch Amhara-Saisonarbeiter für Agrarbetriebe, die in Wohnheimen am Stadtrand untergebracht sind. Mai-Kadra liegt in einem zwischen Tigray und Amhara umstrittenen Distrikt.

Am 9. November, als Äthiopiens Armee sich Mai-Kadra näherte, richtete die Tigray-Polizei laut EHRC Straßenkontrollen ein, überprüfte die ethnische Zugehörigkeit von Passanten, konfiszierte die SIM-Karten von Nicht-Tigrayern und schickte nicht-tigrayische Frauen und Kinder aus der Stadt weg.

Von Haus zu Haus

Ab 15 Uhr sei die informelle Tigray-Jugendmiliz „Samri“ ins Wohnviertel der Saisonarbeiter eingerückt, habe zunächst einen Amhara-Exsoldaten getötet, dessen Leiche mitsamt seinem Haus angezündet und sei dann von Haus zu Haus gezogen.

Der Bericht schildert das weitere Vorgehen: „Sie töteten Hunderte von Menschen, indem sie sie mit Knüppeln tot prügelten, mit Messern, Macheten und Beilen ermordeten und mit Stricken erwürgten. Sie plünderten und zerstörten Wohneigentum. Samri, bestehend aus mehreren Gruppen von jeweils 20 bis 30 Jugendlichen in Begleitung von drei bis vier bewaffneten Polizisten und Milizionären, führten das Massaker aus, während die strategisch an Kreuzungen stationierte Polizei und Miliz auf diejenigen schossen, die zu fliehen versuchten.“

Die Zahl von 600 Toten basiert auf Angaben der Bestatter, die nach dem Einrücken von Äthiopiens Armee die Leichen in Massengräbern sammelten. Weitere Tote seien noch zu bergen. Das EHRC-Team sprach zwischen dem 14. und 19. November mit Augenzeugen, Angehörigen der Streitkräfte, Gesundheitspersonal und lokalen Behörden. „Scharfer Leichengeruch hing noch in der Luft“, vermerkt der Bericht.

Die Schilderung stärkt die Position von Äthiopiens Regierung, die ihr Vorrücken in Tigray als unvermeidlich darstellt und die Tigray-Behörden zur bedingungslosen Kapitulation aufgefordert hat. Ein entsprechendes Ultimatum an die Regionalregierung in Tigrays Hauptstadt Mekelle sollte am Mittwochabend auslaufen.

Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed bekräftigte am Morgen laut BBC, die Militäroperation „wird nicht eingestellt, egal wer stirbt“. Regierungsanhänger in Äthiopien bestritten diese BBC-Übersetzung und sagten, Abiy habe „egal welche Opfer das Militär bringt“ gesagt. Ein Sprecher des Tigray-Militärs lehnte eine Kapitulation ab: „Dies ist ein Volkskrieg und jeder Tigrayer wird sich verteidigen. Sogar mit Speeren und Messern.“

25 Nov 2020

LINKS

[1] /Krieg-in-Aethiopien/!5727155
[2] https://addisstandard.com/wp-content/uploads/2020/11/Maikadra-Preliminary-Findings-English-Final.pdf
[3] /Krieg-in-Aethiopien/!5725143

AUTOREN

Dominic Johnson

TAGS

Äthiopien
Tigray
Massaker
Krieg
Äthiopien
Tigray
Tigray
Tigray
Äthiopien
Äthiopien
Äthiopien
Äthiopien

ARTIKEL ZUM THEMA

Kein Zugang für Helfer nach Tigray: EU friert Gelder für Äthiopien ein

Brüssel macht die Zahlungen für Gesundheits- und Verkehrswesen von humanitären Fortschritten in Tigray abhängig. Das obwohl sich die Lage verschärft.

Abschied vom Friedensvertrag: Mekelle, eine Liebeserklärung

Ein Portrait der Hauptstadt der äthiopischen Region Tigray, die Äthiopiens Armee jetzt eingenommen haben soll und über die ein News-Blackout herrscht.

Krieg in Äthiopien: Angriff auf Tigrays Hauptstadt

Die äthiopische Armee hat begonnen, die Stadt Mekele mit schweren Waffen zu beschießen. Tausende fliehen, Human Rights Watch warnt vor Kriegsverbrechen.

Krieg in Äthiopien: Befehl zum Angriff auf Mekelle

Äthiopiens Premier Abiy Ahmed befiehlt die „Endphase“ seiner Militäroperation. Zivilisten flüchten aus Mekelle, Hauptstadt der Provinz Tigray.

Krieg in Äthiopien: Feuer frei auf Tigrays Hauptstadt

Ein Ultimatum der Regierung Abiy ist abgelaufen, nun macht der Ministerpräsident Ernst: Er weist sein Militär an, in Mekelle einzumarschieren.

Krieg in Äthiopien: Afrika will vermitteln

Eine AU-Troika soll in Äthiopien Gespräche zur Lösung des Tigray-Konflikts führen. Tigray weist äthiopisches Ultimatum zurück.

Krieg in Äthiopien: „Danach wird es keine Gnade geben“

Der Krieg in Äthiopiens Region Tigray spitzt sich zu. Die Zentralregierung droht der Zivilbevölkerung der Regionalhauptstadt Mekelle.

Krieg in Äthiopien: Vorrücken auf Tigrays Hauptstadt

Die Armee der äthiopischen Zentralregierung nimmt Gebiete ein, Tausende fliehen. In der Regionalhauptstadt Mekelle nehmen Versorgungsengpässe zu.

Krieg in Äthiopien: Ein Massaker, viele Fragen

Hunderte Zivilisten sollen bei Äthiopiens Offensive gegen die Region Tigray getötet worden sein. Wer hinter den Angriffen steckt, ist bislang unklar.