taz.de -- Kolumne Habibitus: Das Land, für das ich mich schäme

In diesem Land ermittelt der Staatsschutz wegen geklauter Kleidung. Und ein Neonazi kommt trotz Beihilfe zum Mord frei.
Bild: Glückwunsch Horst. Mit einem symbolischen Sarg vor dem Bundesinnenministerium gedenken Demonstrant_innen Jamal Naser Mahmodis

Deutschland: Das ist das Land, in dem Schüsse auf eine Bäckerin mit Kopftuch nicht als rassistische Tat klassifiziert werden, aber wegen [1][geklauter Kleidung eines rechtsextremen Politikers] der Staatsschutz ermittelt.

Es ist auch das Land, das den [2][NSU-Komplex nicht nur nicht auflöst], sondern die Aufklärung systematisch sabotiert und verhindert, seine Täter_innen schützt und nicht nur kaum bestraft, sogar trotz Beihilfe zum Mord freilässt.

Es ist dasselbe Deutschland, das eine rassistische Mordserie zunächst [3][als „Dönermorde“ bezeichnet] und die Betroffenen kriminalisiert hat. Die Unschuldsvermutung für mordende Neonazis wiegt mehr als die für antifaschistische Aktivist_innen, die wegen Verdacht auf Sachbeschädigung mit Freiheitsstrafen sanktioniert werden.

Es ist ein Land, in dem das ganze Tradition hat: Schon immer wurden Verbrechen von (Neo-)Nazis verharmlost und Antifaschist_innen und Kommunist_innen verfolgt. Schon immer war die Empathie mit den Täter_innen größer als die mit den Ermordeten und ihren Angehörigen.

Was für Leitkultur?

An einer Entnazifizierung scheitert man hierzulande weiterhin, während deutsche Waffen auf der ganzen Welt morden. Es ist dasselbe Deutschland, dessen Verfassungsschutz Die Linke überwacht, die AfD nicht und den NSU jahrelang gestützt hat. Ein Land, dessen Politiker_innen Schweinefleischpflicht fordern, überrascht nicht, wenn Teile seines Bundestags die Shoah verharmlosen und sich zu Überlebenden seiner Vernichtungsindustrie respektlos verhalten. Was für Leitkultur, yani?

Sein Innenminister ist hochgradig inter- und transfeindlich, stimmte vor gut 20 Jahren für das Recht, seine Ehefrau zu vergewaltigen, und [4][hält es für eine witzige Anekdote], dass an seinem 69. Geburtstag 69 Menschen in ein Land abgeschoben werden, in dem regelmäßig Bombenanschläge stattfinden.

Einer von ihnen, Jamal Naser Mahmodi, [5][erhängte sich am Tag seiner Ankunft]. Das BAMF twittert sein Beileid. Würden Migrant_innen offen so menschenverachtende Haltungen vertreten wie Seehofer, würden auch sie abgeschoben werden.

„Ergebnisoffen“ Menschenrechte diskutieren

All dies findet im selben Land statt, in dem Politiker_innen und Journalist_innen rechte Kampfbegriffe normalisieren. In genau diesem Land besteht der BAMF-„Skandal“ darin, dass 1.200 Menschen „unrechtmäßig“ Asyl gewährt wurde und nicht etwa in den vielfachen illegalen Abschiebungen.

Dieses Land lässt ein Seenotrettungsboot voller Menschen tagelang im Stich, anstatt sichere Fluchtwege zu schaffen. Dieses Land kriminalisiert Hilfeleistung und diskutiert ergebnisoffen über Menschenrechte. In diesem Land werden Abschiebelager errichtet, [6][das bezeichnet man als „Masterplan“].

Und ausgerechnet in diesem Land fordern Menschen aus einer Sehnsucht, endlich wieder unverkrampft nationalistisch sein zu dürfen, einen Schlussstrich für seine Verbrechen? Stolz? Ich empfinde nur Scham.

21 Jul 2018

LINKS

[1] /AfD-Chef-beim-Baden-bestohlen/!5510948
[2] /Aufarbeitung-des-NSU-Komplexes/!5517364
[3] /Debatte-Naziterror/!5100716
[4] /Nach-Aeusserung-zu-Abschiebungen/!5522734
[5] /Kommentar-Suizid-eines-Abgeschobenen/!5517244
[6] /Seehofers-Masterplan-Migration/!5518294

AUTOREN

Hengameh Yaghoobifarah

TAGS

Schwerpunkt Rassismus
Abschiebung
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
Bundesinnenministerium
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Antifaschismus
#Unteilbar
Kolumne Habibitus
Chemnitz
Kolumne Habibitus
Kolumne Habibitus
Schwerpunkt Rassismus
Integration

ARTIKEL ZUM THEMA

Kolumne Habibitus: Deutschland im Herbst

Die Zahl der rassistischen Gewalttaten ist nach Chemnitz gestiegen, Waffen verschwinden, eine Leiche taucht auf. Wird niemand hellhörig?

Kolumne Habibitus: Wake me up when september ends

Deutsche lügen sich die Welt so zurecht, dass nicht-weiße Menschen zu Verbrechern werden. Damit machen sie sich zu Opfern, die sie nicht sind.

Kolumne Habibitus: Das deutsche Drama

Wie kann es sein, dass es in Deutschland Nazis gibt, wo wir doch den Flüchtlingen Bananen an den Zug gebracht haben?

Kolumne Habibitus: Ich bin einfach nur sauer

Weil ich ein explizites Gedicht geteilt habe, wurde ich 24 Stunden bei Facebook gesperrt. Das ist nicht nur nervig – es offenbart auch Strukturen.

Kolumne Habibitus: Und tschüss!

Es ergibt keinen Sinn, nur wegen des WM-Aus ziellos mit dem Auto rumzucruisen und die Umwelt zu verschmutzen. Sonst hätte ich Korso gemacht.

Kolumne Habibitus: Skin-Care in 10 Schritten

Muss man sich wehtun, um sich zu pflegen? Oh nein – patriarchalische Anwendungen kann man der Mitte der Gesellschaft überlassen.

Kolumne Habibitus: Haram im Hamam

Jede Person kann sich waschen, wie sie will. Aber dass sogar das Badewesen an den Vorstelllungen der Almans genesen soll – das nervt.