taz.de -- Russische Bibliothekarin verurteilt: „Anti-russische Propaganda“
Im Bestand einer Bibliothek soll verbotene Literatur gewesen sein. Deshalb wurde die ehemalige Leiterin zu vier Jahren auf Bewährung verurteilt.
Moskau taz | Wegen der Verbreitung von „Hass und Feindseligkeit auf nationaler Grundlage“ hat ein Moskauer Bezirksgericht am Montag die ehemalige Leiterin der Moskauer Bibliothek für ukrainische Literatur, Natalja Scharina, zu vier Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Seit Oktober 2015 ziehen sich die Ermittlungen in diesem Fall bereits hin.
Im Herbst vor zwei Jahren war die Bibliothekarin festgenommen und unter Hausarrest gestellt worden. Im vergangenen Jahr erhob die Staatsanwaltschaft auch noch Anklage wegen „Veruntreuung“ öffentlicher Gelder. Es sei eine Sicherheitsvorkehrung gewesen, falls sich der Vorwurf ethnischen Hasses nicht aufrechterhalten ließe, meinte die Verteidigung.
Beim Durchsuchen der Bibliotheksbestände waren Ermittler auf Zeitschriften und Bücher gestoßen, die angeblich „Aufrufe zu antirussischer Propaganda“ enthielten und „russophoben Charakter“ trugen. Die Bücherei ist eine Einrichtung der staatlichen Moskauer Kulturverwaltung, kein privates Projekt der ukrainischen Diaspora in Russland.
150 Titel konfiszierten die Ermittler zunächst. In 25 Büchern fand ein Experte Hinweise auf „Extremismus“. Der Sprachwissenschaftler war des Ukrainischen allerdings nicht mächtig. Einen Verweis auf das „sowjetische Imperium“ wertete der Linguist bereits als Beleg für nationale Verunglimpfung. Gleichwohl soll auch ein Buch des ukrainischen Rechtsradikalen Dmytro Kortschinskij unter der beschlagnahmten Literatur gewesen sein, das seit 2013 auf dem russischen Index verbotenen Schrifttums steht. Vor dem Krieg in der Ukraine war Kortschinskij häufiger Gast auf Veranstaltungen kremlnaher Jugendorganisationen.
Natalja Scharina und Bibliotheksmitarbeiter behaupten unterdessen, die verbotene Literatur sei dem Bestand nachträglich im Laufe der Ermittlungen untergeschoben worden. Auch seien Bücher dem Giftschrank entnommen worden, die nur für wissenschaftliche Zwecke zugänglich sind. Das Gericht ging dem nicht nach, obwohl viele inkriminierte Bände weder Stempel noch Signatur aufwiesen.
Historische Fakten unerwünscht
Bei der Durchsuchung der Wohnung von Natalja Scharina stellten die Ermittler noch einen Sammelband über den ukrainischen Holodomor sicher, den Hungertod von drei Millionen Ukrainern in den 1930er Jahren. Sowjetdiktator Josef Stalin hatte ihn bewusst herbeigeführt. Wer in Russland unerwünschte historische Fakten offen benennt, kann inzwischen mit Strafverfolgung rechnen.
Dem Gesetz nach ist eine Bibliothekarin für den Inhalt eines Buches im Bibliotheksbestand nicht verantwortlich. Sie muss lediglich darauf achten, dass verbotene Schriften gesondert aufbewahrt werden.
Für die russische Menschenrechtsorganisation Memorial steht seit Langem fest, dass Natalja Scharina eine politische Gefangene ist. Auch Amnesty International (AI) pflichtete dem bei. Scharina hätte weder angeklagt noch verurteilt werden dürfen, meinte Denis Kriwoschejew vom AI-Büro Europa und Zentralasien. Es sei ein hochpolitisierter Fall, der die aufgepeitschte antiukrainische Atmosphäre in Russland ausbeute. Auch seien entlastende Zeugenaussagen nicht berücksichtigt worden.
Natalja Scharina wurde auch der Veruntreuung für schuldig befunden. Sie soll in einer bereits 2013 abgewiesenen Extremismus-Klage Gelder aus dem Bibliotheksfonds für den Rechtsbeistand verwendet haben. Die Verteidigung hat angekündigt, in Revision zu gehen. Sie will den Fall auch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bringen.
Nach den USA rangiert die Ukraine in neuesten Umfragen des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum unter den Russland feindlich gesinnten Staaten auf Platz zwei, gefolgt von Deutschland auf Position drei.
7 Jun 2017
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Über Todessehnsucht, Pferde und die Liebe zu Rosa Luxemburg: Andrej Platonows Dystopie „Tschewengur“ ist neu übersetzt worden.
Der Film über eine Liebesaffäre des letzten Zaren Nikolaj II. hatte in St. Petersburg Premiere. Da nützten auch Proteste der Orthodoxen nichts.
Die Glaubensgemeinschaft wurde zur extremistischen Vereinigung erklärt. Sie muss zurück in den Untergrund, wie schon zu Sowjetzeiten.
Der chinesische Zensurapparat findet Pu den Bären nicht so niedlich. In den sozialen Medien wird er als gefährlicher Inhalt eingestuft.
Der russische Präsident gibt auf der Krim Nachhilfe in Sachen Journalismus. Mit der Wahrheit nimmt er es allerdings nicht so genau.
Zehntausende in ganz Russland folgten dem Protestaufruf von Alexei Nawalny. Der wurde bereits vorher festgenommen und nun zu einer Haftstrafe verurteilt.
Die visumfreie Einreise in die EU tritt Mitte Juni in Kraft. Wenn man die richtigen Dokumente hat. Die fehlen der Mehrheit der Bevölkerung noch.
Laut Berichten will die Ukraine den Zugverkehr nach Russland kappen. Dementis sind halbherzig. Direktflüge gibt es schon seit 2015 nicht mehr.
Ein junger russischer Journalist darf vor Ort über den ESC berichten. Im nächsten Jahr würde er sich über ein bisschen politische Ruhe freuen.
Homosexuelle werden in Russland gejagt, in Tschetschenien gefoltert. Die EU muss das Schutzbedürfnis dieser Gruppe ernster nehmen.
Kanzlerin Merkel wird Wladimir Putin in Sotschi treffen. Auf der Tagesordnung: die Situation in der Ukraine, das G-20-Treffen und der Krieg in Syrien.
Zwei Jahre nach der Annexion der Krim steht es nicht gut um die Halbinsel. Trotzdem halten die Bewohner zu Russland.