taz.de -- Debatte um die Offenhaltung Tegels: Falsche Flugrichtung
Wenn der BER eröffnet, soll Tegel geschlossen werden – eigentlich. Eine Initiative aber macht sich für die Offenhaltung stark. Kann Sie Erfolg haben?
Klar sehen die Kinder den Flughafen Tegel eher unkritisch, sagt Heide Schlick. „Die stehen am Fenster und sagen: Cool, schon wieder ein Flugzeug!“ Die Lehrerin gibt private Nachhilfestunden, aus ihrer Wohnung in der Nähe des Kurt-Schumacher-Platzes fällt der Blick auf die Maschinen, wie sie knapp über den Dächern starten und landen. Schlick kann über diese spontane Begeisterung zwar lachen, aber es klingt bitter.
Denn sie lebt und arbeitet ja nicht nur hier. Sie ist hier aufgewachsen, ihre alten Eltern wohnen ein paar Straßen weiter. Als vor einigen Jahren der Umzug des Westberliner Flugbetriebs an den BER bevorstand, hatte sie sich auf ruhige Stunden in dem Kleingarten gefreut, den die Familie seit vielen Jahren pachtet. Das Gegenteil passierte: Es wurde immer voller am Himmel.
Schlick geht kaum noch in den Garten. Ansonsten versucht sie, den ständigen Turbinenlärm mental auszuklammern: „Wenn Sie nicht darauf fokussieren, macht es Sie wenigstens nicht psychisch krank. Dass der Blutdruck steigt, dass man unruhig schläft, das sind körperliche Folgen, die man ohnehin nicht beeinflussen kann.“
Zwei Kilometer weiter südwestlich, im Terminal A des Flughafens Tegel, ist die Welt in Ordnung – noch beziehungsweise wieder. Dank der rund 20 Millionen Euro, die die Flughafengesellschaft 2015 und 2016 in die Publikumsbereiche investiert hat, wirkt alles hell, gepflegt und modern. Zusatzterminals ermöglichen die Abfertigung von derzeit rund 21 Millionen Fluggästen im Jahr. Wer das Innere des Gebäudes verlässt und einen Rundgang über die Besucherterrasse macht, erkennt aber, wie sanierungsbedürftig das 1974 eröffnete Sechseck ist.
Hunderttausende BerlinerInnen in Reinickendorf, Spandau, Mitte und Pankow sind vom Lärm des Airport TXL betroffen, der seine Lebensspanne längst überzogen hat. Andere Menschen wollen aber auch dann noch in Tegel starten und landen, wenn der Großflughafen BER im Jahr 2018 – oder wann auch immer – tatsächlich ans Netz gegangen ist. Die von der FDP politisch dominierte TXL-Lobby hofft tatsächlich, ihren Lieblingsflughafen retten zu können.
Dank ihrer plakativen Pro-Tegel-Kampagne sind die Berliner Liberalen um Sebastian Czaja ins Abgeordnetenhaus zurückgekehrt. Seit dem Start des Volksbegehrens zur Tegel-Offenhaltung im November rühren sie unermüdlich die Trommel. Gerade haben sie mit Ryanair einen neuen Werbepartner gewonnen: Die Low-Cost-Airline verlinkt von ihrer Website direkt zum Volksbegehren. Angeblich prüfen die Iren auch, ob sie einen Hinweis auf die Boardingpässe drucken oder gleich Unterschriftenlisten in den Flugzeugen auslegen.
Die Unterstützung kann dem Volksbegehren auch nicht schaden. Schließlich waren nach der Hälfte der viermonatigen Sammelfrist am 20. Januar erst rund 30.400 der benötigten knapp 175.000 Unterschriften eingereicht worden, wie die Landeswahlleitung mitteilte. Sebastian Czaja lässt sich von so etwas natürlich nicht beeindrucken: „Es ist ganz normal, dass man in den ersten Wochen nicht so stark mobilisiert“, erklärt der FDP-Fraktionschef gegenüber der taz. „Es kommt darauf an, wie man ins Ziel einläuft, und ich bin nach wie vor sehr optimistisch.“
Die Weihnachtszeit habe den Sammelstart ein wenig gedämpft, so Czaja. Den Vergleich mit dem „Volksentscheid Fahrrad“, der für ein anderes verkehrspolitisches Thema in wenigen Wochen hunderttausend UnterstützerInnen fand, will er nicht gelten lassen. Die Fahrradlobby habe eine populistische Forderung aufgemacht, während die Tegel-Kampagne immer noch Überzeugungsarbeit leisten müsse, dass ihre Forderung rechtlich überhaupt umsetzbar ist. Das halten Czaja und Co aber für geklärt: Tegel könne weitermachen, wenn der politische Wille vorhanden sei.
Fiktiv festgestellt
Und ist das so? So eindeutig wie die Macher des Tegel-Volksbegehrens äußert sich im politischen Betrieb niemand. Es traut sich aber auch niemand mehr die glasklare Aussage zu, dass der Rückweg abgeschnitten sei, dass TXL mit der BER-Eröffnung schließen müsse. Tatsächlich war genau das jahrelang vom Senat behauptet worden. In der rot-rot-grünen Koalitionsvereinbarung heißt es jetzt diplomatisch: „Im Interesse der Lärmentlastung breiter Bevölkerungsschichten und wegen der Auflagen in der Planfeststellung des BER und der fehlenden Genehmigung des Betriebs des Flughafens Tegel nach deutschem Recht wird der Flughafen Tegel geschlossen.“
Was hat es mit den beiden genannten Punkten auf sich? In der Planfeststellung des BER, dem 2004 abgeschlossenen Genehmigungsverfahren des Hauptstadtflughafens, wurde die Schließung Tegels zwar zum Junktim erhoben. Ein von der Tegel-Lobby bei den Wissenschaftlichen Diensten des Bundestags in Auftrag gegebenes Gutachten stellte aber schon 2013 unmissverständlich klar: Eine juristisch bindende Wirkung entfaltet das nicht.
Was die Planfeststellung sowie die Betriebsgenehmigung von TXL angeht (der Flughafen wurde nach alliiertem Recht gebaut und nach der Wende „fiktiv“ planfestgestellt und genehmigt), kommt dasselbe Gutachten zu folgendem Schluss: Zwar wurden die beiden rechtlichen Voraussetzungen vom Senat in den Jahren 2004 bzw. 2006 widerrufen – die Flughafengesellschaft könne jedoch aufgrund der inzwischen massiv gestiegenen Passagierzahlen eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen. Ausgeschlossen scheint also nichts.
Für Harald Wolf, den verkehrspolitischen Sprecher der Linkenfraktion, steht allerdings die Frage im Raum, ob beim „Widerruf des Widerrufs“ der Betriebsgenehmigung nicht eine komplett neue Planfeststellung notwendig würde. „Hier wird rechtlich völlig neues und ungesichertes Terrain betreten“, so Wolf, der für diesen Fall mit jahrelangen Gerichtsverfahren rechnen würde.
Marke längst geknackt
Wie massiv die Fluggastzahlen zuletzt gestiegen sind, zeigt die Grafik auf dieser Seite. Und tatsächlich hat die Realität die einstigen Prognosen schon überholt. Berlin, Brandenburg und der Bund hatten 1996 im „Konsensbeschluss“ zum Bau eines Single-Airports 30 Millionen Fluggäste als Ende der Fahnenstange angenommen. 2016 haben die beiden Alt-Airports diese Marke schon geknackt.
Ob die von Sebastian Czaja gerne genannte Prognose von 60 (!) Millionen Passagieren schon im Jahr 2030 viel mit der Wirklichkeit zu tun hat, bleibt dahingestellt. Die Zahl ergebe sich aus der linearen Fortschreibung der letztjährigen Zuwächse, so Czaja, es sei eine konservative Rechnung. Die Flughafengesellschaft selbst erwartet für 2030 nur 46,8 Millionen Passagiere und plant bereits ein Satelliten-Terminal für den BER.
Juristisch machbar oder nicht, auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob ein TXL-Weiterbetrieb wirtschaftlich wäre. Harald Wolf verweist auf die gewaltigen Kosten, die der Flughafengesellschaft dann durch Lärmschutzmaßnahmen entstünden. Die 2016 vom Senat auf rund 400 Millionen Euro bezifferte Summe hält er eher für zu niedrig, Fakt ist, dass zurzeit kein Tegel-Anwohner vom Fluglärmschutzgesetz von 2007 profitiert, weil damals extra für Tegel eine Fristenlösung eingebaut wurde. Spätestens 2019 haben sie Anrecht auf bauliche oder finanzielle Lösungen.
Den Investitionsbedarf an der stark gealterten Substanz der Anlagen in Tegel schätzt Wolfs Kollege Harald Moritz von der Grünen-Fraktion auf einen dreistelligen Millionenbetrag. Oliver Friederici (CDU), der im Gegensatz zu Parteifreunden wie dem Reinickendorfer Bundestagsabgeordneten Frank Steffel und Fraktionschef Florian Graf auch nach dem Ende von Rot-Schwarz am Aus für Tegel festhält, gibt zu bedenken, dass die Tragfähigkeit der Betonbauten, der Auffahrten und Parkebenen nicht auf das stark gestiegene Durchschnittsgewicht heutiger Pkws ausgelegt sei.
Dass Tegel derzeit profitabel operiert, steht außer Frage: Schließlich wird die längst abgeschriebene Anlage hart an der absoluten Kapazitätsgrenze betrieben. Aber bei zwei parallel betriebenen Flughäfen müsste auch der kostenintensive Flughafenbetrieb zweimal bezahlt werden“, gibt Linkenpolitiker Wolf zu bedenken. „Das Gros des Flugverkehrs würde auf den BER verlagert, Tegel würde einen wesentlich geringeren Anteil von Passagieren abfertigen und vermutlich bestenfalls mit einer ‚schwarzen Null‘ wirtschaften.“ Der ebenfalls nicht voll ausgelastete BER, der doch zum „Hub“, zum internationalen Drehkreuz, werden soll, verlöre gleichzeitig an Wirtschaftlichkeit.
Können ausgerechnet die Tegel-Fans der FDP das wollen? Eine ineffiziente Doppelstruktur, die am Ende immer weiter subventioniert werden muss? Sebastian Czaja hat die passende Antwort parat: Der Weiterbetrieb von Tegel würde das anvisierte Umsteige-Drehkreuz am BER regelrecht „stabilisieren“, glaubt er – indem sich auf dem alten Westberliner Flughafen vor allem kürzere „Point-to-Point“-Verbindungen wie Urlaubs-Charterflüge konzentrierten. In den Ferienzeiten etwa hielte das Belastungsspitzen vom BER ab. „Das sortiert sich“, sagt Czaja, „das wird sich gegenseitig sogar befruchten.“
Für Billigflieger wie Ryanair, deren Basislager derzeit in Schönefeld (Alt) steht, ist das eine verlockende Perspektive: Konkurrenz belebt das Geschäft und senkt die Gebühren. Fluggäste mit knappem Budget hätten dann natürlich das Problem wie heute schon in London, mit dem die Volksbegehren-Kampagne Berlin so gerne vergleicht: Ein Langstreckenflug vom BER, kombiniert mit einem billigen Berlinflug nach TXL, brächte zwangsläufig eine Fahrt durch die ganze Stadt mit sich. Na ja, sagt Sebastian Czaja, „wenn Sie springen, weil Sie günstiger fliegen wollen, müssen Sie für sich halt die Rechnung aufmachen, ob das finanziell und zeitlich noch günstiger ist.“
Besser Bad Freienwalde
Tegel als Flugdiscounter? Solche Ideen halten TXL-Gegner für absurd. „Wenn die Region unbedingt einen Billigflieger-Airport braucht – Bad Freienwalde hat sich selbst ins Gespräch gebracht“, sagt Holger Lück von der Initiative „Danke, Tegel. Es reicht“, die eine auch von Politikern beachtete Facebook-Seite betreibt. Dann stimme auch der Vergleich mit London, wo der Ryanair-Standort Stansted 50 Kilometer von der City entfernt liegt.
Die Aktivisten rund um Lück und den Rechtsanwalt Ulf Weigelt leben vor allem in Pankow. Viele Menschen sind in den nuller Jahren dorthin gezogen und rechneten fest damit, dass bald Ruhe einkehre. Jetzt „hangeln sie sich von Jahr zu Jahr“, wie Weigelt es ausdrückt. Einen Erfolg des Volksbegehrens befürchten sie aber nicht – und politisch verbindlich sei es ohnehin nicht.
Bei den Pankowern ist die Wut noch frisch – vielen Menschen in Reinickendorf und Spandau, wo es mit dem Protest schon Ende der 80er anfing, ist inzwischen die Luft ausgegangen. „Viele sind nach so langer Zeit Jahren richtiggehend resigniert“, weiß Rolf-Roland Bley, der sich seit 24 Jahren bei der „Initiative gegen das Luftkreuz auf Stadtflughäfen“ engagiert.
Bley, seit Langem auch in der Fluglärmschutzkommission für Tegel, nennt die Zahlen, die ihn besonders ärgern: Zwischen 22 und 6 Uhr gab es im Jahr 2002 insgesamt 5.101 Flugbewegungen in TXL – im Jahr 2016 waren es schon 9.633, im Schnitt 26 pro Nacht. Dabei handelte es sich vor allem um gewerbliche Flüge. Die meisten fielen in die Stunde zwischen 22 und 23 Uhr, aber immerhin fast jeder zehnte wurde zwischen 23 und 24 Uhr registriert, wo eigentlich absolutes Flugverbot herrscht.
Die meist älteren Mitglieder der Initiative treffen sich heute gar nicht mehr regelmäßig. Wie Lehrerin Heide Schlick versuchen sie, ihre Wut zu verdrängen. Bis sie wieder nachts vom Röhren der Turbinen geweckt werden. Geht man nach den Initiatoren des Tegel-Volksbegehrens, handelt es sich dabei um ein echtes Metropolengefühl.
7 Feb 2017
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