taz.de -- Autorin über Rassismus in Kinderbüchern: Pippi und der Kolonialismus
Deutsche verteidigen rassistische Wörter und blenden gleichzeitig ihre koloniale Vergangenheit aus. Das sagt die Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo.
taz: Frau Otoo, wird die Welt besser, wenn man diskriminierende Wörter wie „Neger“ aus Kinderbüchern streicht?
Sharon Dodua Otoo: Das ist komplizierter, als es scheint. Der Rassismus in „Pippi Langstrumpf“ zum Beispiel hängt nicht davon ab, ob die Schriftstellerin Astrid Lindgren ursprünglich das N-Wort benutzt hat. Auch wenn man dieses Wort streicht, wird Rassismus weiterhin eine Rolle spielen.
Warum?
Die Geschichte, dass Pippis Vater irgendwo hinsegelt und sagt „Ich bin jetzt König“, das ist kurz gesagt die Geschichte von Kolonialismus, das ist Rassismus.
Also macht es keinen Unterschied, ob das Wort verwendet wird oder nicht?
Ich finde es gut, dass es künftig gestrichen wird. Denn Kinder sollten nicht lernen, dass das N-Wort ein neutrales Wort ist.
Ist es nicht hilfreicher, wenn man den Begriff so stehen lässt und dafür darüber redet?
Nein, man braucht keine beleidigenden Wörter, um sich in dieser Gesellschaft mit Rassismus zu beschäftigen. Ich muss auch nicht „Schlampe“ und „Hure“ in Kinderbücher schreiben, um über Sexismus zu sprechen. Außerdem geht dieser Gedanke von der Annahme aus, man würde sonst keine Gelegenheit haben, mit Kindern über Rassismus zu sprechen. Das ist für schwarze Kinder natürlich überhaupt nicht zutreffend.
Streicht man mit dem Wort nicht auch die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus?
Als schwarze Person, die in Deutschland lebt, erlebe ich, wie sehr der Kolonialismus in Deutschland ausgeblendet wird. Es gibt so viele ExpertInnen zur deutschen Kolonialzeit, die jeder Zeit ihr Wissen mit allen teilen würden. Aber sie werden ignoriert. Viele Menschen glauben, dass Deutschland keine Kolonien hatte oder sie sagen, „das war nur so eine kurze Zeit“. Wer weiß denn heute von der Afrikakonferenz 1884 in Berlin? Genau hier ist es passiert, dass Afrika zerteilt und verschenkt wurde wie ein Stück Kuchen. Es ist deshalb umgekehrt: Erst durch die N-Wort-Debatte reden weiße Deutsche jetzt auch über Rassismus und das deutsche Kolonialerbe.
Sie sagen selbst, dass Stereotype auch ohne den Begriff bestehen bleiben. Wie entscheidet man, was geändert werden muss?
Es gibt verschiedene Grade von Verletzungen, die die Würde des Menschen betreffen. Die Rolle der Frau zum Beispiel in Kinderbüchern besteht oft einfach nur darin, hübsch zu sein und darauf zu warten, von einem Prinzen gerettet zu werden. Das empfinde ich als Frau auch als problematisch. Aber ich habe Vertrauen, dass Mädchen heute verstehen, dass es sich um eine Männerfantasie handelt und dass sie diese Rollenbilder nicht bedienen müssen. Denn sie haben genügend Vorbilder in ihrer Realität, die etwas anderes verkörpern.
Was unterscheidet dann ein einzelnes Wort von einer ganzen Handlung, die beispielsweise eine Frau in einer klischeehaften Rolle zeigt?
Bei einem ausgeschriebenen Wort ist es etwas anderes als bei einer ganzen Handlung. Der Begriff wird ja nicht problematisiert. Pippi fragt sich ja nicht, wie die Leute sich selbst nennen, nein, sie sagt, die heißen so und so und die lügen und machen dies und das. Das führt dazu, dass Menschen und Kinder, die das Wort lesen, denken, es wäre ein normales Wort.
Ist es nicht Zensur, wenn man Wörter, die man politisch nicht korrekt findet, streicht?
Leute, die sagen, das sei Zensur, haben nicht verstanden, was Zensur ist, und sie haben auch nicht verstanden, was Recht in einer Demokratie ist. Ein Vater hat sich an den Thienemann Verlag gewendet und auf ein Problem aufmerksam gemacht. Er hat von seinem Recht Gebrauch gemacht, Dinge zu kritisieren. Der Verlag hat sich daraufhin mit der Familie Preußler zusammengesetzt und diskutiert. Und sie haben dann entschieden, das N-Wort in Neuauflagen nicht mehr zu drucken. Wo ist da Zensur?
Aber Bezeichnungen für das „Fremde“ haben sich schon immer geändert. Zum Beispiel von „Asylant“ zu „Ausländer“ zu „Migrant“ zu „Mensch mit Migrationshintergrund“. Muss man jetzt alle paar Jahre Wörter in Kinderbüchern ändern? Wann hört das auf?
Es hört nicht auf.
Ist das die Lösung? Wörter immer wieder auszutauschen?
Es gibt immer wieder Sprachreformen. Ich habe Germanistik in London studiert. Da habe ich gelernt, dass „dass“ mit „ß“ geschrieben wird, ich habe damals gelernt, dass „Du“ immer großgeschrieben wird. Es gab kein „skypen“, kein „liken“. Sprache ändert sich. Wörter ändern sich.
Könnte man sich das nicht ersparen und sich darauf konzentrieren, was sich die Autoren und Autorinnen gedacht haben? Gerade Ottfried Preußler und Astrid Lindgren galten als große Aufklärer.
Es kann sein, dass Astrid Lindgren es nicht rassistisch gemeint hat. Auch für mich war Pippi ein großes Vorbild. Aber meine Definition von Rassismus beruht nicht darauf, dass jemand schwarze Menschen töten oder durch die Straßen jagen möchte. Bei Rassismus geht es nicht um die Intention, sondern um Wirkung. Er schafft ein System, in dem Ungerechtigkeiten und Gewalt ausgeübt und verharmlost werden. Rassismus ist auch schädlich für weiße Personen. Sie sind weniger bereit, empathisch zu sein. Das sieht man auch in dieser Debatte.
Inwiefern?
Menschen werden als „politically correct“ beschimpft, man spricht von Zensur, von der Freiheit der Kunst, nur weil man sagt, dass man ein Wort als rassistisch empfindet und nicht in Kinderbüchern lesen will. Warum will man krampfhaft ein Wort verteidigen, von dem angeblich jeder weiß, dass es verletzend ist?
Sie sind selbst Schriftstellerin. Finden sie es nicht problematisch, in literarische Werke einzugreifen?
Für mich fällt das N-Wort nicht unter die künstlerische Freiheit, das Wort ist ein Verbrechen. Für jemanden wie mich, die mit zwei Sprachen lebt, ist es aber auch eine Frage der Übersetzung. Gerade wenn man argumentiert, Astrid Lindgren habe es nicht rassistisch gemeint, dann ist es auch in Ordnung, ihre Worte ins Neudeutsche zu übersetzen. Wenn sie einen Menschen beschreiben wollte, der auf einem anderen Teil der Erde wohnt und nicht beleidigen und ein kolonialistisch geprägtes, rassistisches Wort benutzen wollte, dann kann man es ruhig anders übersetzen.
Sie leben als Britin schon lange in Deutschland. Hat diese Kinderbuch-Debatte für Sie etwas typisch Deutsches?
In England ist das N-Wort einfach ein No-go. Da muss man nicht diskutieren. Wenn man jemandem sagt, das empfinde ich als rassistisch, dann folgt in der Regel als erste Reaktion eine Entschuldigung. Was ich als sehr deutsch empfinde, ist dieses ganz sture Recht-haben-Wollen. Da kommen Argumente, wie „Mein schwarzer Freund hat gesagt, er findet das nicht rassistisch“.
Wer darf denn entscheiden, was rassistisch ist und was nicht?
Für mich ist die Bewegung wichtig, Institutionen, Initiativen, genau wie beim Feminismus. Man kann sich nicht als Einzelperson hinstellen und sagen, meine Freundin findet „Tussi“ okay, deshalb ist das nicht sexistisch. Es gibt auch einige Selbstorganisationen in Deutschland, zum Beispiel die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, sie sprechen gerne mit jedem, der in der Lage ist, zuzuhören.
Was steht denn als Alternative in ihrem Bücherregal?
Ich weiß nicht, was wir haben, was andere nicht haben, Harry Potter, Charles Dickens usw. Unser Bücherregal ist wahrscheinlich ziemlich durchschnittlich, wir haben eine Sammlung von den Lieblingskindergeschichten von Nelson Mandela, vielleicht ist das etwas anders. Es wäre schön, wenn es gute Bücher gäbe, die Rassismus thematisieren würden, oder einfach Bücher, in denen schwarze Kinder ganz selbstverständlich vorkommen ohne etwas Besonderes zu verkörpern. Aber die fehlen.
Möchten Sie kein besseres Kinderbuch schreiben?
Doch, doch! Es ist bereits in Arbeit. Ich habe ja sehr gute und vor allem kritische Testleser zu Hause.
20 Feb 2013
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