taz.de -- Debatte Türkei: Das Modell Erdogan ist tot

Die Türkei steht kurz davor, sich in einen religiösen Polizeistaat zu verwandeln. Entscheidend ist, wer 2014 Bürgermeister in Istanbul wird.
Bild: „Demokratie ist wie Straßenbahn fahren. Wenn man am Ziel ist, steigt man aus“ (Recep Tayyip Erdogan).

Es ist noch nicht lange her, da galt die Türkei als die weltweit gelungenste Synthese einer überwiegend islamischen Gesellschaft, die die Werte einer pluralistischen Demokratie respektiert. Die Wirtschaft wuchs, genauso wie die weltweite Anerkennung. Man sprach vom Modell Türkei, nach der ersten positiven Phase der Arabellion reiste Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan durch Ägypten, Tunesien und Libyen und wurde enthusiastisch gefeiert. Es schien ausgemacht: Die Türkei wird die kommende regionale Macht zwischen Balkan und dem Nahen Osten.

Zwei Jahre später sieht die Sache komplett anders aus. Die pluralistische Demokratie hat sich in eine hässliche Autokratie verwandelt, die jede abweichende Meinung mit brutaler Repression verfolgt. Die Wirtschaft rauscht in den Keller, denn ausländische Anleger fliehen in Scharen und auch Investoren ziehen sich zurück. Gleichzeitig hat sich die weltweite Achtung für den islamischen Modernisierer in Verachtung gewandelt: Im Nahen Osten ist Erdogan zur Persona non grata geworden und der Westen ignoriert ihn mittlerweile.

Wie konnte es zum diesem Absturz kommen? Der Hauptgrund ist: Als es das erste Mal in seiner gut zehnjährigen Amtszeit wirklich darum ging, sich als Demokrat zu beweisen, hat Erdogan gezeigt, dass er von Demokratie gar nichts hält, ja im Kern überhaupt nicht versteht, was Demokratie eigentlich bedeutet.

Natürlich hatte es schon vor dem Gezi-Aufstand im Mai/Juni dieses Jahres immer wieder berechtigte Zweifel an seiner demokratischen Gesinnung gegeben. Doch Erdogan hatte bislang bei allen innenpolitischen Kämpfen immer den Vorteil, dass seine Gegner sich bereits hinlänglich diskreditiert hatten. Das ließ seine demokratischen Defizite weniger schmerzhaft erscheinen.

Erstmals Gegner mit Legitimation

Doch im Zuge der Gezi-Proteste hatte er es plötzlich nicht mehr mit rückwärtsgewandten Kemalisten oder Marionetten der Militärs zu tun. Plötzlich ging der demokratische, fortschrittliche und gebildetste Teil der türkischen Gesellschaft auf die Straße und forderte die Rechte ein, die in einer demokratischen Gesellschaft selbstverständlich sein sollten: das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Mitspracherecht bei der Gestaltung des direkten Lebensumfeldes oder das Recht auf eine ideologiefreie Bildung, um nur einige Punkte zu nennen. Jetzt zeigte sich das Ende des „Demokraten“ Erdogan.

Konflikte, die in einer demokratischen Gesellschaft durch Dialog und Kompromisse gelöst worden werden, führten in der Türkei zu einer Staatskrise, weil Erdogan als Antwort nur Repression, eine verhehrende Freund-Feind-Rhetorik und irrwitzige Verschwörungstheorien kannte.

Partei, Parlament und Justiz versagen

Die Krise offenbarte zudem, dass die Türkei nach wie vor keine gefestigten demokratischen Institutionen hat. In einer normalen Parteiendemokratie hätte ein Ministerpräsident, der so aus dem Ruder läuft wie Erdogan, von seiner Umgebung eingefangen und abgeblockt werden müssen. Stattdessen gab es in Regierung und Partei niemanden, der Kritik wagen durfte, auch wenn viele AKPler der Ansicht waren und sind, dass Erdogan einen Kamikazekurs fährt.

Das Parlament fiel als korrigierende Instanz ebenfalls aus – da die AKP über die absolute Mehrheit verfügt und außerdem ein Teil der Opposition als demokratisches Korrektiv ebenfalls nicht taugt. Am deprimierendsten aber ist, wie sich die angeblich unabhängige, reformierte Justiz wieder in den Dienst des Autokraten stellt und die gewünschten Verfahren und Urteile liefert.

Als Demokrat hat sich Erdogan also desavouiert. Vielleicht noch schwerer aber für die unmittelbare Zukunft der Türkei wiegt, dass er sein Image als pragmatischer Wirtschaftsführer zerstört hat.

Die angebliche Zinslobby

Da Erdogan die demokratischen Proteste als eine nationale und internationale Verschwörung gegen ihn interpretierte, begannen er und seine Umgebung von einer internationalen Zinslobby zu fabulieren, was im Subtext jüdische Lobby bedeutete. Die würde im Hintergrund die Fäden ziehen, denn sie wolle einen weiteren wirtschaftlichen Erfolg der Türkei verhindern. Banken und große Konzerne wurden mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen überzogen, um für diese Theorie Belege zu beschaffen.

Erschwerend kam hinzu, dass die amerikanische Fed just in dieser Zeit andeutete, ihre Niedrigzinspolitik in nicht allzu ferner Zukunft zu beenden, sodass viele Anleger begannen, ihr Geld aus den Schwellenländern abzuziehen, um es wieder in den USA zu investieren.

Hatte es Erdogan bislang geschafft, internationalen Anlegern das Bild von Solidität und Stabilität zu vermitteln, zeigt sich auf einmal ein Regierungschef, der irrational handelt und mit primitivsten Vorurteilen Politik macht. Kein Wunder also, dass das Kapital abgezogen wurde und die Türkei deshalb schon im Kürze Probleme haben wird, ihr hohes Außenhandelsdefizit auszugleichen.

Die Proteste gehen weiter

Vor diesem Hintergrund gehen die Proteste nun in die nächste Runde, und bei Erdogan gibt es keine Anzeichen, dass er seine Haltung ändern könnte. Im Gegenteil, jede Demonstration wird jetzt schon im Keim erstickt. Ob die Türkei nun vollends zu einem religiösen Polizeistaat wird, entscheiden die Wahlen im kommenden Jahr.

Da sind zunächst die immens wichtigen landesweiten Kommunalwahlen, in deren Rahmen auch der Bürgermeister in Istanbul neu gewählt werden wird.

Alles hängt nun davon ab, ob die Opposition in Istanbul sich geschlossen hinter einen Kandidaten gegen die AKP versammelt. Dann wäre ein Sieg möglich, und eine Niederlage in Istanbul könnte erstmals innerhalb der AKP zu einer Debatte über Erdogan führen.

Setzt sich Erdogan dagegen im März 2014 in Istanbul und bei den danach anstehenden Präsidentschaftswahlen im August durch, wird die Türkei in einer religiös verbrämten Autokratie enden. Wie sagte Erdogan am Anfang der 1990er Jahre, noch bevor er Bürgermeister in Istanbul wurde: „Demokratie ist wie Straßenbahn fahren. Wenn man am Ziel ist, steigt man aus.“

30 Sep 2013

AUTOREN

Jürgen Gottschlich

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