taz.de -- Attentat auf Boris Nemzow: Die Verrohung Russlands

Putin opfert sogar sein Streben nach Stabilität der permanenten Mobilisierung gegen Feinde. Der Hass, den er sät, wird unkontrollierbar.
Bild: Putin war vielleicht nicht der Auftraggeber – aber er trägt Schuld.

MOSKAU taz | Die Meldung vom Attentat auf Boris Nemzow war noch ganz frisch, als sich Wladimir Talismanow schon im Netz ausließ: „Ein abscheuliches Miststück weniger! Erst haben die Amerikaner ihn geschaffen und nun beseitigt.“ So ergehe es „Terroristen“ und „politischen Huren“, meinte der Vizedekan der Moskauer Hochschule für Physik und Technologie, einer renommierten Einrichtung. Zufällig derselben Anstalt, an der auch Anton, der Sohn des Ermordeten, studiert.

Studenten bedauerten in einem Brief den Ausfall. Dem Physiker selbst fiel es schwer, sich zu entschuldigen. Er habe spontan „als Patriot“ reagiert. Von Reue zeigte er keine Spur. Talismanow war eher davon irritiert, dass eine Umgebung, die doch ähnlich empfindet, ihn plötzlich maßregelt, sogar ein Minimum an Anstand einfordert. Andere Studenten solidarisierten sich denn auch mit ihrem Dozenten.

Für die Verrohung Russlands trägt Präsident Wladimir Putin die Verantwortung. Seit mehr als zehn Jahren wird der Gesellschaft Moral ausgetrieben. Die Verrohung raubt ihr auch zunehmend das Mitgefühl.

Wladimir Putin wird den Mord an dem Kritiker nicht in Auftrag gegeben haben. Schon gar nicht die hochsymbolische Inszenierung zu Füßen der Kremlmauer, die einem „Kleinen Kurs für Attentäter“ aus der KGB-Bibliothek hätte entnommen sein können.

Putin auf Popularitätshoch

Unmittelbar nach dem Attentat sprach der Kreml von „Provokation“. Die Machtzentrale fand kein Wort des Bedauerns für das Opfer oder seine Angehörigen. Das wahre Opfer, so die Botschaft, sei der Präsident.

Russlands Machthaber fühlen sich umzingelt – von Provokateuren aller Art: den Amerikanern, der EU, Angela Merkel, der Nato, ukrainischen „Faschisten“, Esten und Georgiern. Nicht zuletzt von der Opposition, die als „ausländische Agenten“ und „fünfte Kolonne“ ihr Unwesen treiben soll. Die Mehrheit der Bürger glaubt dem Kreml. Nur die Führung ist sich dessen nicht sicher.

Eine Fülle von hanebüchenen Erklärungen für den Mord an Nemzow stiftet seither Verwirrung, obwohl der Kreml gar kein Motiv besitzt. Wladimir Putin surft seit Monaten auf einem Popularitätshoch von mehr als 80 Prozent, und die Opposition ist so schwach wie nie zuvor. Nemzow war ein aussichtsloser Gegenspieler, der sich jederzeit zum Sündenbock aufblasen ließ. Seine Westkontakte waren ein willkommener Beleg, ihm Verrat zu unterstellen. Dutzende TV-Beiträge erklärten ihn für Russlands Übel verantwortlich. Jetzt ist er tot – und nichts wird besser.

Warum sollte der Kreml diese Ressource vergeuden, statt sie als stille Reserve zu hüten; für die Zeit, wenn der Ukraine-Bonus in einen Malus umschlägt? Nein, Wladimir Putin ist nicht der Auftraggeber, so schön es auch ins Bild passen würde.

Faktenresistenz

Nemzow hatte vor seinem Tod Informationen über die Verstrickung der russischen Armee in die Kämpfe in der Ostukraine angekündigt. Sollte der Kreml den Bericht gefürchtet haben? Nemzows frühere Enthüllungsgeschichten – über den sagenhaften Reichtum Putins oder die korrupte Elite – taten der Popularität des Präsidenten auch keinen Abbruch. Wer sie glauben will, glaubt sie halt. Doch nur sehr wenige tun das. Die anderen halten am alten Glauben fest. Auch dies ist ein Ergebnis der Volkserziehung unter Putin: Faktenresistenz.

Es gab keinen Grund, den charismatischen Politiker Nemzow aus dem Weg räumen zu lassen. Und doch trägt Putin die Verantwortung. Er hat die Gesellschaft in „wir“ und „sie“ zerschlagen. „Sie“ sind die Andersdenkenden, die „Nationalverräter“. „Sie“ sind auch die „Schlechten“, denen das Gesetz keinen oder nur noch geringen Schutz bietet.

Zu den „Schlechten“ zählen Teile der russischen Mittelschichten wie die „kreative Klasse“. Ihre Kinder besuchen eine „schlechte“, weil liberalere Hochschule. Die „Kreativen“ ziehen auch „schlechte“ Theater vor, deren Inszenierungen das russische Biedermeier überwunden haben. Rund um die Uhr hämmern Medien dem Zuschauer Verachtung für das Andere ein.

Putin säte Hass, verbrämt als Patriotismus. Die Gesellschaft verlor die sittliche Orientierung. Nur blinde Gefolgschaft zählt noch. Der Präsident holte die Krim heim, spielt mit den Grenzen einer „russischen Welt“ und kämpft als gefühlter Chef einer konservativen Bewegung weltweit allein gegen das Böse in dieser Welt.

„Anti-Maidan“

Der Kreml gab durch die unversöhnliche Gegenüberstellung von „wir“ und den „Anderen“ auch die Stabilität preis, jenes Leitmotiv der Vorjahre, mit dem der konsequente Abbau der Demokratie gerechtfertigt wurde. In Armee, Geheimdienst, den staatlichen Gewalt- und Repressionsorganen sind Putins ideologische Versatzstücke populär. Dass der Präsident diese vor allem zur eigenen Machtsicherung einsetzt, ist nur in einem kleinen Segment der Gesellschaft angekommen.

Die Landsknechte im Donbass träumen unterdessen von noch viel mehr, einem anderen Staatsaufbau. Unter ihren Anführern sind Anhänger der eurasischen Idee des rechten Philosophen Alexander Dugin und ähnlich obskurer Figuren. Putins politisches Umfeld ebnete ihnen den Weg vom rechten Rand in die Politik und die Talkshows. Sie wollen nicht nur „Neurussland“, sondern gleich ein neues „Großrussland“ errichten. Linke und rechte Ideologen haben in der Vision eines neuen totalitären Staatswesens einst unvereinbare Gegensätze und Feindschaften überwunden.

Einer von ihnen ist Igor Strelkow. Im Sommer war er noch Verteidigungsminister der selbst ernannten „Volksrepublik“ Donezk. Der Geheimdienstoberst a. D. stieg in der Ostukraine aus, weil er über Moskaus zögerliche Haltung bei der Einverleibung des Nachbarn enttäuscht war. Hätte er nicht Lunte gelegt, wäre in den „Volksrepubliken“ alles ruhig geblieben, pries er die eigene Leistung gegenüber einem rechtsradikalen Blatt. Solche wie er wollen mehr, und es sind viele.

Die rotbraunen Desperados legen es darauf an, Putin zum Handeln zu zwingen. Nicht der Kiewer Maidan bedroht seine Herrschaft, wie es Moskau unermüdlich behauptet. Kolonnen von „Schwarzhemden“ sind es, die aus unterschiedlichen Milieus mit autoritären Weltbildern stammen, angefangen bei den Kosaken über religiöse Eiferer aus dem Umfeld der russisch-orthodoxen Kirche bis hin zu den unzähligen Offiziers- und Veteranenverbänden sowie Dutzenden nationalistischen und rechtsradikalen Organisationen.

Putin warnte vor Nationalverrätern

Sie überlappen sich mit dem „Anti-Maidan“, einer Organisation, die die Polittechnologen der Macht vor Kurzem als Schutztruppen gegen die russische Zivilgesellschaft formierten. Bei Großveranstaltungen zur Unterstützung des Kreml werden ihre Reihen durch Fußballfans und sozial schwache „Honorarkräfte“ aus der Provinz aufgestockt.

Der Präsident soll gezwungen werden, auch im Innern rücksichtslos – wenn nötig, auch blutig – durchzugreifen. Die Möglichkeit des Rückzugs soll ihm verbaut werden, falls er doch noch auf die Idee kommt, sich mit dem Westen zu arrangieren.

In diesem Umfeld dürften die Attentäter zu suchen sein. Sie müssen professionelle, eng mit den Sicherheitsapparaten vernetzte Killer gewesen sein, die dem „Líder“ im Kreml ein Menschenopfer darbrachten.

Manch einer aus dieser Klientel könnte wie Wladimir Talismanow glauben, er hätte dem Kremlchef einen Dienst erwiesen. Schließlich hatte Putin vor einem Jahr beim Anschluss der Krim vor „Nationalverrätern“ gewarnt, zur Wachsamkeit gegenüber der „fünften Kolonne“ aufgerufen und unzählige Feinde Russlands erkannt.

Kommt die Aufklärung des Verbrechens in den nächsten Wochen nicht voran, dürfte dies ein Hinweis darauf sein, dass Wladimir Putin in den Sicherheitsorganen niemandem auf die Füße treten will. Er darf sie nicht erzürnen, denn auf ihre Unterstützung ist er angewiesen. Das bedeutet aber auch: Putin hat den Laden nicht mehr im Griff. Der Staat, den wir sehen, den gibt es schon gar nicht mehr. Er führt einen Krieg aus Schwäche.

8 Mar 2015

AUTOREN

Klaus-Helge Donath

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