taz.de -- Musikstreaming mit KI: Wie das Jüngste Gericht, nur anders
Künstliche Intelligenz verändert das Streaming von Musik. Unser Autor hat für Playlists von Algorithmen keinen Bedarf.
Ich streame nicht. Kein Bedarf. Die Algorithmen (vulgo: KIs) funktionieren für mich nicht. Ich höre Musik nicht nach Laune, will, wenn ich ein Stück gehört habe, nicht lauter ähnliche Stücke hören, und was heißt das überhaupt: ähnlich? Ich falle durchs Raster. Selbst da, wo man mich wirklich gut kennen sollte, bei Discogs, wo große Teile meiner Musiksammlung hinterlegt sind, fällt den Algorithmen nichts Besseres ein, als mir Alben der Dire Straits, von Bruce Springsteen und Nick Cave zu empfehlen. Haha.
Nicht dass ich etwas gegen digitalisierte Musik hätte. Ich kaufe nach wie vor mitunter CDs, ja! Und es wird noch perverser: Ich habe eine fein sortierte und aufwendig gepflegte mp3-Sammlung. Wenn bei den Streaming Services mal der Strom ausfällt oder der neue CEO findet, diese und jene Musik ist blöd, oder die neue Regierung in dem Land, in dem die Serverfarmen stehen, bestimmte Stücke nicht mag und sie löschen lässt – dann ziehe ich meine Festplatte aus der Schublade und lasse es mir mit all diesen verschwundenen Werken wohl sein.
Im Moment wird ja tagtäglich gebarmt, welche Berufe durch die Machtübernahme der KIs noch alle verschwinden werden. Mitunter leistet die KI aber nur noch Sterbehilfe bei Jobs, die ohnehin schon seit Jahren todgeweiht sind. Meine Stream-Verweigerung lässt mich an meine Radio-Verweigerung denken. Spätestens bei der Einführung des Privatradios und der nachfolgenden Übernahme der Privatradio-Praktiken durch die Öffis war ich raus. Na ja, gelegentlich mal byte.fm, mal DLF Kultur, aber eigentlich höre ich mir keine Musiksendungen mehr im Radio an.
Zehn Jahre zuvor hatte ich fast nichts anderes gemacht, ließ mich bei der Musikauswahl von Kräften wie Klaus Wellershaus, Wolf-Rüdiger Sommer (beide NDR) oder Anne Rottenberger (Radio Bremen) beglücken, die nicht einfach nur die neuesten Veröffentlichungen nudelten, sondern assoziierten, sich treiben ließen und immer wieder auch Vorlieben Raum gaben. Beeindruckend, inspirierend und unter dem tödlichen Dogma der „Durchhörbarkeit“ natürlich sofort gekillt. So wurde der Job „Musikkurator*in“ (vulgo: Radio-DJ) schon Mitte der 80er von Algorithmen übernommen.
Dein musikliebendes Herz in den Datenmühlen
Zurück zum Heute: Heute verschimmeln die musikauswählenden KIs von Anno dunnemals auf dem „Back when Pluto was a planet“-Sondermüllhaufen zwischen ranzigen mp3-Playern und vergorenen Floppy Discs. Heute sind die Algorithmen viel feiner trainiert und haben vor allem eine ganz andere Datenbasis als vor vierzig Jahren, als die Parameter Charts-Platzierung und vielleicht noch Tempo und grobe stilistische Einordnung (vulgo: „Musikfarbe“) reichen mussten.
Die Streaming-Technologie hat dich dazu gebracht, dass du dein Innerstes preisgibst, dein musikliebendes Herz über den Backkanal in die Datenmühlen schickst. [1][Die KIs reißen Stücke heraus und bauen dir daraus die unwiderstehliche Liste.]
Das sind natürlich nur Zwischenschritte. Am Ende wird das Konzept von geistigem Eigentum in Flammen aufgehen und die Kulturindustrie vom Urbösen in den Höllenschlund gesogen. Das wird sich anfühlen wie das Jüngste Gericht, nur anders. Bis es so weit ist, dürfen wir uns aber amüsieren.
Wahrscheinlich wird in den unendlichen schwedischen Wäldern, wo die Musikströme entspringen, bereits daran gearbeitet, Algorithmen zu trainieren, im Stil bekannter Radio-Persönlichkeiten Musik auszuwählen. Siri, stelle mir eine Liste im Stile von Klaus Walters „Der Ball ist rund“-Sendung zusammen! ChatGPT denkt sich die Moderationstexte aus, die dann von der Originalstimme vorgetragen werden. Und wenn sie das hinkriegen, streame ich endlich auch. Vielleicht.
29 May 2023
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