taz.de -- Fotoband über Saint-Gilles: Die Dichte der jüngeren Vergangenheit
Wie in einem nostalgischen Film lichtet Fotograf Jonathan Schmidt-Ott in seinem Bildband „St. Gil“ Südfrankreich in staubig-körnigen Farbtönen ab.
Berlin taz | Dicke Agavenblätter wellen sich über die Seiten, spiegeln in ihrer Struktur das überbordende Fassadenornament des ihnen gegenübergestellten Gründerzeitbaus. Von der Abendsonne beleuchtete Strandarchitektur wird durch einen Sonnenspalt, der sich durch die nackte Haut eines gebeugten Beins zwängt, zum Körper. Die Luftaufnahme eines Gartens lässt einen Torso zur barocken Landschaft werden: achselhaariges Gestrüpp, weicher brustwarziger Platz.
In [1][Jonathan Schmidt-Otts Bildband „St. Gil“] entfaltet auf weit ausgreifenden, sorgfältig editierten Doppelseiten eine staubige, [2][südfranzösische Welt] in körnigen Farbtönen. Ohne große Hierarchien verschwimmen bei dem Berliner Fotografen entspannt die visuellen Genres. Die dialogische Anordnung der Bilder ist typisch für den 1976 geborenen Schmidt-Ott, dessen Ausbildung an der Babelsberger Filmuniversität durch jeden Quadratmillimeter seiner Arbeit sickert.
Die meisten Bilder im Katalog sind in der Kleinstadt Saint-Gilles aufgenommen – vielleicht auch woanders, ein bisschen ist es egal. Der verfremdete Titel steht ohnehin eher für ein Gefühl als für dokumentarischen Anspruch, was durch das magazinige Überformat und die großzügige Gestaltung von Florian Lamm noch unterstützt wird. Trotz oder gerade wegen der objekthaften Statik des Buches wirken die Bilder wie ein Film.
Der Geruch von trockenem Beton
Einer, der ein alternatives Leben zeigt, das man hätte haben können oder schon mal hatte – an das man sich nur nicht erinnert, auch wenn es sich irgendwie vertraut anfühlt, wie das Salz auf der Haut, die nassen Algensteine unter den Füßen, der Geruch von trockenem Beton und warmem Katzenurin. „Das Dasein ist dicht. Hier gibt es keine Leere“, beschreibt Patrick James Reed in einem wirklich tollen Begleitessay diesen Effekt.
Er trifft das Gefühl damit im Kern. Die Dichtheit von Schmidt-Otts Bildband wirkt wie aus der Zeit gefallen. Aus einer jüngeren Vergangenheit, als Algorithmen noch nicht bis in die privateste Ecke unseres visuellen und kommerziellen Konsums vorgedrungen waren und man ab und zu [3][noch Zeit hatte, Bilder wirklich zu betrachten] – die der anderen, aber auch die eigenen. Vielleicht ist das die eigentliche Sehnsucht, die „St. Gil“ so nostalgisch hervorruft: nicht die nach der Riviera, sondern einfach nur nach ein wenig Zeit.
16 May 2025
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