taz.de -- Überraschende Wende in Syrien: Stunde null in Aleppo

Nach den Rückschlägen des Assad-Regimes ist die Zukunft Syriens wieder offen. Für viele Geflüchtete ist es ein Moment der Freude – doch wie lange?
Bild: Oppositionskräfte haben Aleppo zurückerobert

Aleppo war die Hölle vor acht Jahren, als Russland und Syriens Assad-Regime [1][jeden Tag und jede Nacht Fassbomben und Raketen auf die schutzlosen und ausgehungerten Menschen] im von Rebellen gehaltenen Ostteil der Stadt niederprasseln ließen. Lebensmittel und Medikamente kamen nicht hinein, wer den Opfern half, wurde als Islamist diffamiert.

Als die [2][Überlebenden im Dezember 2016 abziehen mussten] und im Winterregen in grünen Bussen durch die Trümmerlandschaft ihrer Stadt ins Rebellengebiet von Idlib gebracht wurden, war Assads und Putins Triumph scheinbar komplett. Aber schon damals stand „Wir kommen wieder“ an den Wänden mancher Ruinen.

Acht Jahre später sind sie wiedergekommen. Syriens Rebellen haben in einer spektakulären Blitzoffensive die Millionenstadt Aleppo unter ihre Kontrolle gebracht – kampflos. Die grün-weiß-schwarze Flagge des „freien Syrien“ weht über einer der ältesten Städte der Welt. Die wichtigsten Militärbasen im Norden Syriens sind erobert, selbst Russland zieht sich aus diesem Landesteil zurück.

Es ist eine historische Revanche, fast ohne Beispiel in der Geschichte. Die 20-jährigen jungen Kämpfer von heute waren 12, als sie von Assad ausgebombt wurden. Sie sind geprägt vom Überlebenskampf gegen ein Terrorregime, das ohne Skrupel lieber die syrische Bevölkerung umbringt, als seine Macht zu teilen.

Syrien muss neu entstehen – ohne Assad, ohne Warlords

Jetzt bröckelt das Assad-Regime in ganz Syrien. Die Zukunft ist vollständig offen, und nicht wenige blicken auch voller Angst auf das, was da kommen könnte. Werden unter den Rebellen radikale Islamisten den Ton angeben? Kommt es zum Krieg zwischen verschiedenen Fraktionen? Spielen äußere Mächte, allen voran die Türkei, syrische Gruppen gegeneinander aus?

Die meisten [3][Demokratieaktivisten, die 2011 todesmutig für ein „freies Syrien“ auf die Straße gingen,] sind längst tot: verhungert, von Giftgas getötet, erschossen, in Folterkellern zermalmt. Wer jetzt noch kämpfen kann, hat Unvorstellbares überstehen müssen.

Niemand in Syrien traut irgendwem. Seit Generationen hat das Regime die Menschen zum gegenseitigen Misstrauen erzogen, es herrscht Gewalt und Rechtlosigkeit; wer sich nicht um sich selbst kümmert, ist verloren.

In dieser Situation ein demokratisches Syrien aufzubauen, grenzt an Unmöglichkeit. Aber genau das muss jetzt geschehen. Syrien muss neu entstehen – ohne Assad, ohne Warlords. Der erste Schritt dorthin ist gemacht. Die Millionen Menschen aus Syrien, die in aller Welt seit Jahren auf ein Ende des Schreckens hoffen, haben diesen Moment der Freude verdient. Sie ahnen selbst, dass er nicht von Dauer sein könnte.

1 Dec 2024

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Dominic Johnson

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