taz.de -- Spanische Serie „La Mesías“ auf Arte: Die Heilige und ihre Familie
Das Arte-Familiendrama „La Mesías“ erzählt von einer gescheiterten Frau über drei Jahrzehnte, Perversion des Glaubens und Leben mit seelischen Wunden.
Am zerklüfteten katalanischen Berg Montserrat begegnet dem Kameramann Enric der Albtraum seiner Kindheit: seine Familie, die er längst verlassen hat. Ausgelöst wird das durch ein katholisches Musikvideo, das im Fernsehen in einer Bar läuft. Eine Männergruppe zieht hämisch darüber her. In der Welt der Serie sind die verkitschten Pop-Videos mit technischen Effekten und religiöser Hingabe gerade der Renner in den sozialen Medien, werden viel geklickt, gepostet, belächelt und verspottet.
Die [1][siebenteilige Serie „La Mesías“,] die Auserwählte, des spanischen Dramaturgieteams Javier Ambrossi und Javier Calvo zeigt ein verstörendes Familiendrama über drei Generationen. Es spielt zwischen den 80er Jahren und dem Jahr 2013 und zeigt trotz Untiefen voller Traumata Sinn für Humor.
Die meisterhafte Inszenierung mit Celebrities des spanischen Kinos, wie den Almodóvar-Stars Rossy de Palma und Lola Dueñas, spielt auf zwei Ebenen: In der Gegenwart werden die Geschwister Irene und Enric durch die Musikvideos der Stella Maris von ihrer Kindheit eingeholt. Die beiden haben ihre sechs Schwestern zurückgelassen. Es sind ebendiese sechs Schwestern, die die Videos hochladen, um die Welt zu retten. Angestiftet werden sie von der Mutter Montserrat, die behauptet mit Gott zu sprechen, in seinem Auftrag zu handeln.
Die Verwandlung der Mutter Montserrat von einer instabilen Persönlichkeit zur manipulativen, bösartigen Tyrannin und religiös Erleuchteten zeigt die Serie in verschiedenen Etappen: Ihr Absturz als alleinerziehende Mutter in die Prostitution, ihre toxische Abhängigkeit von Männern und ihr Traum von einer Karriere als spanische Lady Gaga.
Ihr unausgereifter Charakter wird explosiv, als sie mit einem Mann, der ein Kruzifix um den Hals trägt, in Kontakt kommt. Dieser zurückhaltende Mensch, gespielt vom katalanischen Sänger Albert Pla, glaubt das Licht in ihr gesehen zu haben. Er zeugt sechs Mädchen mit ihr, die zusammen mit den ersten Kindern, Enric und Irene, in absoluter Isolation und ohne Bildung im Haus hinter den Bergen versteckt aufwachsen.
Vom Sittendrama zum Abschied und Wiederbegegnen
„La Mesías“ ist eine Geschichte über eine gescheiterte, verbitterte Frau, die Perversion des Glaubens, giftige Mutterschaft und die Fähigkeit Erwachsener, Kindheitstraumata zu ertragen. Es ist eine Familiengeschichte über soziale Prägung und die Bindung an die Familie.
Sie ist auch ein Soziogramm der spanischen Gesellschaft mit ihrer populären, exhibitionistischen Religiosität, den katholischen Mythen und dem gesellschaftlichen Einfluss des reaktionären Opus Dei. Die Serie ist ein Porträt dessen, was es bedeutete, in einem von der Franco-Diktatur beeinflussten und von Religion geprägten Spanien aufzuwachsen. Vor allem aber ist es die Erzählung von der Verlorenheit des Individuums, der es durch Religiosität, überirdische Erscheinungen oder der heilenden Wirkung von Drogen entkommen will.
Die Serie markiert ihre zwei Erzählstränge visuell und musikalisch. Das Heute der Protagonisten zeigt sich mit Handys, Graffiti, modernem Berufsleben und neuen Gurus. Das Gestern mit der Szenerie des zerklüfteten Bergmassivs von Montserrat, den einsamen Bauernhöfen, der Musik und Kleidung der 1980er Jahre, ein aus der Zeit gefallener Machismo.
Diese erzählerische Vielseitigkeit zieht sich durch die sieben Folgen der Serie, die vom Sittendrama über den Familienterror bis zum Abschied und Wiederbegegnen reichen. Es gibt ein Entkommen aus diesem Familiendrama: den schmerzhaften Wandel, die Veränderung. Der Kameramann Enric jedenfalls sucht – ohne esoterisch zu sein – weiter nach Heilung seiner seelischen Wunden mit neuen Göttern.
26 Nov 2024
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