taz.de -- Chinesische Verachtung für Gorbatschow: Er galt als Verräter
In Chinas KP-Führung ist Michail Gorbatschow geradezu verhasst. Er wird für den ideologischen Niedergang der Sowjetunion verantwortlich gemacht.
Peking taz | In China ist die Anteilnahme am Tod von Michail Gorbatschow äußerst verhalten. Mehr noch: Das Ableben des 93-Jährigen wird mit einer gehörigen Portion Häme und Schadenfreude kommentiert.
Hu Xijin, einer der führenden politischen Publizisten des Landes, bezeichnet auf seinem Twitter-Account Gorbatschow als „einen der umstrittensten Staatsführer der Welt“: Er habe im Westen große Anerkennung erlangt, indem „er die Interessen seines Heimatlandes verkaufte“. Zudem sei er dafür verantwortlich, dass auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion – darunter Tschetschenien, Georgien und Ukraine – weiterhin „Kriege ausbrechen“.
Noch gehässiger äußern sich die Staatsjournalisten innerhalb der chinesischsprachigen Online-Plattformen. Gorbatschow verdiene lediglich „Verachtung“, schreibt der Kommentator Wuwei Li an seine immerhin knapp 900.000 Follower auf Weibo: Er war ein lahmer, inkompetenter, feiger Politiker“, der für China als „abschreckendes Beispiel“ dient. Man könne ihm für diese Lehre nur „danken“. Wuweis zynische Botschaft an den ehemaligen sowjetischen Präsidenten lautet: „Gute Reise!“.
Von „historischer Sünder“ über „Verräter“ bis hin zu „Mörder der kommunistischen Partei“: Das chinesische Netz ist gefüllt mit negativen Superlativen über den früheren sowjetischen Führer. Doch Fakt ist: Kaum ein Staatsapparat hat die Causa Gorbatschow derart sorgfältig studiert wie die Parteikader der Volksrepublik.
Xis Trauma vom Niedergang der Sowjetunion
Insbesondere Staatschef Xi Jinping wurde vom Niedergang der Sowjetunion geradezu traumatisiert. Zu Beginn des Jahres 2013, nur kurz nach seinem Amtsantritt, sprach der heute 69-Jährige in einer geheimen Rede darüber, dass er „historischen Nihilismus“ und „ideologische Verwirrung“ für den Fall der Sowjetunion verantwortlich machte. Die KPSU habe es versäumt, ihre Führer Lenin und Stalin in Ehren zu halten. Schuld daran war Gorbatschow, der westliche Demokratie-Reformen ins Land brachte.
Xi schwor sich damals, jene „Fehler“ nicht zu wiederholen – und zog bereits in den ersten Jahren als Staatschef die ideologischen Zügel so eng wie seit der Herrschaft von Staatsgründer Mao Zedong nicht mehr. Seine Parteikader verdonnerte er zudem dazu, den Untergang der Sowjetunion – als abschreckendes Beispiel – genauestens zu studieren.
Doch für Chinas einst lebendige Zivilgesellschaft war Gorbatschow ganz im Gegenteil ein regelrechter Hoffnungsschimmer. Als der Russe im Mai 1989 nach Peking reiste, demonstrierten dort die Studenten auf dem Tiananmen-Platz gerade gegen Korruption und für mehr politische Mitbestimmung. Damals sagte der Staatsgast in einer bemerkenswerten Rede: „Wirtschaftliche Reformen werden nicht funktionieren, solange sie nicht von einer radikalen Transformation des politischen Systems unterstützt werden“.
Doch Chinas Staatsführung unter Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping entschied sich bekanntermaßen für einen anderen Weg: Die Protestbewegung wurde mit Panzern und Soldaten blutig niedergeschlagen.
Dementsprechend knapp fiel am Mittwoch die offizielle Reaktion des Pekinger Außenministeriums aus. Gorbatschow habe einen „positiven Beitrag zur Normalisierung der Beziehungen zwischen China und der Sowjetunion geleistet“, ließ Sprecher Zhao Lijian nüchtern ausrichten: „Wir sprechen seiner Familie unseren Beileid zu seinem krankheitsbedingten Tod aus“.
31 Aug 2022
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Chinas Staatschef Xi Jinping reist das erste Mal seit Pandemiebeginn ins Ausland. Er versucht dabei, Allianzen gegen den Westen zu schmieden.
Der letzte Präsident der UdSSR sei eine „Lichtgestalt, die in den Schatten geraten ist“. Das sagt der Ost-Grüne Werner Schulz.
Im Westen verehrt, in Russland beschimpft: Der frühere Sowjet-Präsident Michail Gorbatschow riss Mauern ein und glaubte an die Freiheit. Ein Nachruf.
Der ideologische Staatschef Xi Jinping und der pragmatischere Premier Li Keqiang zeigen unterschiedliche Vorstellungen von Chinas Zukunft.
Chinas Kommunikation nach außen entspricht nicht der im Inneren des Landes. Aktivisten machen das mit „The Great Translation Movement“ sichtbar.
In der Provinz Henan demonstrieren wütende Anleger. Die chinesischen Behörden reagieren darauf mit roher Gewalt.