taz.de -- Verhaftung der Pop-Sängerin Gülşen: Keine Scherze mehr
In der Türkei ist die Sängerin Gülşen verhaftet worden, weil sich die AKP von einem Scherz angegriffen fühlt. Gehört das schon zu Erdogans Wahlkampf?
Istanbul Bekannte Künstler der Türkei, unter anderen der Sänger Tarkan und der Pianist Fazil Say, haben sich empört über die Verhaftung ihrer Kollegin Gülşen geäußert. Das Recht werde mit Füßen getreten, Gülşen habe nichts getan, was eine Verhaftung rechtfertigt.
Die in der Türkei sehr bekannte Pop-Sängerin Gülşen Bayraktar Çolakoğlu war letzten Donnerstag in ihrer Wohnung festgenommen und am Freitag von einem Haftrichter in Untersuchungshaft gesteckt worden. Ihr angebliches Vergehen: Anstachelung zu Hass und Feindseligkeit. Der Anlass für ihre Verhaftung ist ein Youtube-Video von einer Szene, in der sie in einer nichtöffentlichen Situation zu einem Kollegen scherzhaft sagt, er sei wohl deshalb so pervers, weil er in seiner Kindheit auf eine Imam-Hatip-Schule gegangen sei. Die Youtube-Szene, die bereits im April entstanden war, war von Anhängern der Regierungspartei AKP massenhaft verbreitet worden, um zu zeigen, was für eine schlimme Person die 46- jährige Sängerin sei.
Gülşen, die politisch völlig unauffällig ist, war als säkulare Frau, die in ihren Shows gelegentlich auch mit einem relativ freizügigen Outfit auftritt, schon länger von Islamisten im Netz verfolgt worden. Mit ihrem Spruch auf Youtube sahen diese Kreise jetzt die Gelegenheit, sie angreifen zu können.
Kernstück der AKP Bildungspolitik
Die [1][Imam-Hatip-Schulen], auf die sie verwiesen hatte, sind das Kernstück der AKP-Bildungspolitik. Auf ihnen werden die Kinder streng religiös erzogen. Ursprünglich nur für die Ausbildung von Imamen vorgesehen, sind die Schulen schon vor Jahren von der AKP immer mehr aufgewertet worden und verdrängen bereits an vielen Orten die „normalen“ staatlichen Schulen. Ihr Auftrag ist, die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan geforderte neue religiöse Generation hervorzubringen.
Offenbar erschrocken über das massive staatliche Vorgehen gegen sie, hat die Sängerin sich gleich in den sozialen Medien für das Video entschuldigt. Ihr Spruch sei ein rein privater Scherz gegenüber einem alten Bekannten gewesen. Sie habe niemals vorgehabt, Hass gegen eine Gruppe der Gesellschaft zu verbreiten. Sie wiederholte diese Aussage auch vor dem Haftrichter, doch der ordnete dennoch U-Haft an.
Mehrere bekannte Anwälte, darunter auch [2][Veysel Ok, der in Deutschland als Verteidiger von Deniz Yücel bekannt geworden war,] stellten daraufhin öffentlich dar, dass für ihre Verhaftung jede Rechtsgrundlage fehle und die U-Haft deshalb völlig willkürlich ist. Viele Erdoğan-Kritiker fürchten, dass ihre Festnahme zur Einschüchterung der überwiegend Erdoğan-kritischen Kulturszene dient, damit diese sich im kommenden Wahlkampf nicht aufseiten der Opposition engagiert. Die nächsten Präsidentschaftswahlen sind im kommenden Frühjahr.
28 Aug 2022
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