taz.de -- Schriftsteller zu Russland und Ukraine: „Putin hat seine eigene Realität“

Der belarussische Autor Sasha Filipenko ist nicht überrascht von der Eskalation um die Ukraine. Der Westen sei schon zu lange untätig gewesen.
Bild: „So wie früher die Zaren interessiert Putin die Größe des Territoriums“: Autor Sasha Filipenko

taz: Sasha Filipenko, Wladimir Putin hat die Volksrepubliken Donezk und Luhansk nun offiziell als unabhängig anerkannt und Truppen dorthin geschickt. Muss man die Lage im Russland-Ukraine-Konflikt nun völlig neu bewerten?

Sasha Filipenko: Nein, eigentlich ist das doch nichts Neues. In Europa ändert sich vieles de jure – de facto hat aber Putin die Volksrepubliken Donezk und Luhansk längst besetzt. Putin riecht Blut wie ein Hai und dehnt sich aus wie Gas. Sein Vorgehen ist der Preis, den Europa und die USA jetzt für ihre Untätigkeit zahlen müssen. Während der Westen noch diskutiert, handelt er, reißt alles an sich, was er will. Paradoxerweise sind [1][Putins irre Aktionen] nachvollziehbarer als das jahrelange Stillhalten des Westens.

In der FAS schrieben Sie Mitte Februar: „Ich glaube fest daran, dass Putin den Bezug zur Realität verloren hat. (…) Sein einziges Ziel ist es, Macht zu erhalten – vorzugsweise über so viele Gebiete wie möglich.“ Bestätigt sich das jetzt?

Ja. Die USA und Europa haben alles versucht, um die Gespräche aufrecht zu erhalten, [2][Putin handelt und agiert lieber im Stillen.] Wenn nicht schon die ganze Zeit über Truppenbewegungen und seine Taktik spekuliert worden wäre, hätte er die Ukraine vielleicht schon längst angegriffen. Das Problem ist, dass gerade niemand genau weiß, was Putin will und was er vorhat, nicht mal seine engsten Vertrauten. Er will wohl seine Einflusssphäre in Europa sichern, vielleicht will er aber auch die Ukraine erobern und eine neue Sowjetunion aufbauen.

Putin und der Kreml haben 2021 in einem Aufsatz noch einmal betont, dass das „dreieinige Volk der Großrussen, Kleinrussen und Belorussen“ zusammengehöre, also die Bedeutung der vermeintlichen Dreiheit Russland, Ukraine und Belarus betont.

Das meine ich, wenn ich von einem Realitätsverlust Putins spreche. Er konstruiert seine eigene Realität und bekommt nicht mit, dass sowohl in der Ukraine als auch in Belarus nur noch eine Minderheit zu Russland gehören will. In Belarus vielleicht ein Fünftel der Bevölkerung, je nachdem, welcher Umfrage man Glauben schenkt. In der Ukraine gehen seit der Krim-Annexion rund 60 Prozent klar auf Distanz zu Russland. Putin und Lukaschenko reden über ihr Land, wie sie über eine Frau oder eine Geliebte reden. Sie checken aber nicht, dass die Frau sie schon seit Langem verlassen will.

Das starre Russlandbild hat Putin aber schon seit seinem Amtsantritt im Jahr 2000, oder?

Ja, so wie früher die Zaren interessiert Putin die Größe des Territoriums, das er beherrscht. Die Bevölkerung interessiert ihn nicht. Es ist ihm egal, dass 30 bis 40 Prozent der Menschen in Russland keinen Reisepass haben und nicht ins Ausland reisen können, abgesehen von Belarus. Es ist ihm egal, dass von den 140 Millionen Russinnen und Russen sehr viele unterhalb der Armutsgrenze leben. Und wenn er sagt, er wolle den Russen helfen, die in der Ukraine leben, dann ist das ja wohl ein lachhafter Vorwand. Als hätte Hitler damals den Österreichern helfen wollen.

Am Sonntag haben Sie unter anderem mit der deutschen Kulturstaatsministerin Claudia Roth und der belarussischen Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Rahmen des Formats „Security and Literature Series“ diskutiert. 2021 haben Sie in der taz gesagt, man solle die Bedeutung der Literatur nicht überschätzen. Haben Sie diese Ansicht dort auch vertreten?

In der Diskussion wurden eher allgemeinere Dinge besprochen, zum Beispiel, dass man die belarussische Literaturszene unterstützen muss und dass die Belarussinnen und Belarussen den Kampf für die Freiheit nicht aufgeben sollen. Die Literatur bewegt sich immer ein bisschen im Abseits, gerade wenn ein Krieg droht. Trotzdem glaube ich, dass sie auch immer wieder Einfluss auf Politiker hat. Die Diskussion war sehr kurz, aber ich habe mich danach noch länger mit Frau Roth ausgetauscht.

Was haben Sie ihr gesagt?

Ich habe mit ihr über strengere Sanktionen gegenüber Lukaschenko gesprochen und darüber, wie man den Kreativen in Belarus helfen kann.

Was bedeutet die Situation in der Ukraine nun für die belarussische Widerstandsbewegung? Gibt es in dieser so schwierigen Zeit Tendenzen der Zersplitterung?

Es gibt unterschiedliche Lager innerhalb der Opposition. Es gibt die alte Opposition und die neue Opposition, es gibt die Bewegung um Pavel Latushko im Exil in Warschau, Tichanowskaja in Vilnius. Ich glaube aber, dass die belarussische Opposition sehr viel gelernt hat in Sachen Konfliktkultur, die Debatten sind meines Erachtens viel vernünftiger als früher. Vor 20 Jahren noch war die Opposition radikal und zersplittert, es gab häufig Machtkämpfe, die Oppositionspolitiker haben sich schon um das Fell des Bären gestritten, als der noch lange nicht erlegt war. Heute wollen alle ein Ende der Diktatur, darüber ist man sich ganz sicher einig. Ich persönlich wünsche mir vor allem einen Staat, dessen Institutionen funktionieren. Mich interessiert weniger, wie der nächste Präsident oder die nächste Präsidentin heißt, ich wünsche mir wehrhafte demokratische Institutionen und Mechanismen, die in der Lage sind, Diktaturen zu verhindern.

Eine neue Verfassung also. Lukaschenko hält am kommenden Wochenende ein Referendum über die Verfassungsänderung ab. In einem Entwurf war zunächst von Machteinschränkungen und einem Machttransit die Rede – ein weiterer Bluff?

Es ist ein illegitimes Referendum, weil Lukaschenko auch ein illegitimer Präsident ist. Er versucht sich an der Macht zu halten. Dementsprechend ist es völlig egal, ob er ein Referendum abhält oder Wassermelonen erntet oder sonst irgendetwas macht. Genauso gut könnte ich morgen ein Referendum abhalten, das hätte den gleichen Stellenwert. Bei dem Referendum kann nur mitstimmen, wer sich in Belarus aufhält. Die Auslandsbelarussen, von denen es derzeit Zigtausende gibt, können nicht mitstimmen. Natürlich wird es auch keinen Machttransfer geben, Lukaschenko wird die Macht erst abgeben, wenn Putin sagt, dass er das tun muss. Er ist eigentlich nur noch eine Art Regionalgouverneur.

Ihr Roman „Die Jagd“, der gerade auf Deutsch erscheint, ist im Original bereits 2016 erschienen. Darin gibt es die Figur des kritischen Journalisten Anton Quint, der von den Behörden bedroht und drangsaliert wird. Ist der Roman als Hommage zu lesen an all jene Journalisten, die sich dem Druck nicht beugen?

Natürlich, das ist eine Würdigung aller, die unabhängig und kritisch berichten. Sie alle stehen unter enormem Druck. Dieser Druck beginnt nicht erst dort, wo man mit dem Tod bedroht wird. Man kann auch durch andere Maßnahmen eingeschüchtert werden. Heute ist es so, dass in Russland alle kritischen Journalisten als ausländische Agenten abgestempelt werden und so in ihrer Existenz gefährdet sind.

Protagonist Anton Quint selbst entwirft in der Handlung einen Romanstoff, wo es darum geht, dass jemand für das Posten leerer Blogeinträge vor Gericht gestellt wird. Sie haben den Roman vor sechs Jahren veröffentlicht – hat die Realität die Fiktion inzwischen eingeholt?

Es ist eine wahr gewordene Prophezeiung. In dem Buch entwirft der Journalist Quint eine solche Erzählung und er wird zugleich mit finsteren Methoden verfolgt. Ich wollte zeigen, dass die Grenze zwischen Dystopie und Realität in Russland verschwimmt. Als das Buch erschien, meinten die Leute: Okay, so ähnlich wäre das in der Realität möglich, aber die Handlung ist auch etwas aufgebauscht. Heute sind solche Scheinprozesse gang und gäbe.

Sie halten sich derzeit in Westeuropa auf, Sie können weder nach Russland noch nach Belarus zurück. Was droht Ihnen dort?

Ich würde dort wahrscheinlich eingesperrt oder mir würde die belarussische Staatsangehörigkeit entzogen. In der regimetreuen Zeitung Belarus Segodnja wurde neulich behauptet, in Belarus debattiere man darüber, mir die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Als ob in Belarus alle an ihren Küchentischen säßen und darüber diskutierten! In Europa ziehe ich gerade von Stadt zu Stadt, weil es nicht so einfach ist, eine Lösung für meine Familie zu finden. Die europäischen Länder bieten mir ein Visum an, aber meiner Frau und meinem Sohn nicht – zumindest nicht dauerhaft. Ich habe es schon in Deutschland, den Niederlanden und Dänemark versucht, immer passte es für uns drei nicht. Europa schreibt sich auf die Fahnen zu helfen, aber in der Realität gibt es dann doch oft Hindernisse. Deshalb lebe ich derzeit mal hier, mal dort.

Dolmetscherin war Ruth Altenhofer

22 Feb 2022

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AUTOREN

Jens Uthoff

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