taz.de -- Ende des Dritten Reichs vor 75 Jahren: Jeder bestiehlt jeden
Von Hitlers Tod bis zur Kapitulation: Der Historiker Volker Ullrich schildert in seinem Buch „Acht Tage im Mai“ die letzte Woche der NS-Diktatur.
Das neue Buch des Historikers, Journalisten und ehemaligen Zeit-Redakteurs [1][Volker Ullrich] handelt, wie der Untertitel sagt, von der „letzten Woche des Dritten Reiches“. Was oft als „Stunde null“ bezeichnet wurde, war tatsächlich eher eine dramatische Umbruchszeit des Taumelns in der realen Irrealität zwischen dem „Nichtmehr“ und dem „Nochnicht“. Und dieses Leben in der Zwischen- beziehungsweise Unwelt hatte für verschiedene Personengruppen ganz unterschiedlichen Charakter.
Riesige Flüchtlingstrecks mit Statusdeutschen aus Osteuropa bewegten sich mit unklarem Ziel nach Westen; im „Reich“ irrten rund 11 Millionen halb verhungerte, mittellose ehemalige KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter umher, sogenannte Displaced Persons; viele Frauen und Mädchen erlebten die Zeit als eine brutaler sexueller Übergriffe durch russische und andere Besatzungssoldaten, unter den „Hundertprozentigen“ der Nazis – Zivilisten wie Soldaten und Offiziere – brach eine regelrechte Selbstmordepidemie aus.
Regimetreue um den Großadmiral Karl Dönitz – darunter Kriegsverbrecher wie Otto Ohlendorf – richteten sich in einer geschäftsführenden Regierung mit Sitz in Flensburg auf eine Fortsetzung des Dritten Reiches ohne Hitler ein.
Das ebenso kenntnis- wie facettenreiche Buch verfolgt die militärischen, politischen und gesellschaftlichen Ereignisse von Hitlers Selbstmord am 30. April im Führerbunker bis zur Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation mit den Alliierten in Reims am 7. Mai 1945 und mit der Sowjetunion in Berlin-Karlshorst am 9. Mai.
Einstellung von Kampfhandlungen
Schon am 8. Mai hatte das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) über den Rundfunk die Einstellung von Kampfhandlungen bekannt gegeben. Die Regierung Dönitz blieb noch 15 Tage im Amt und ihr Versuch scheiterte kläglich, das Spiel weiterzuspielen, das Goebbels am 1. Mai mit dem Plan eines Separatfriedens mit der Sowjetunion begonnen hatte.
Dönitz dagegen wollte den Krieg gegen den Bolschewismus an der Seite der Alliierten fortsetzen. Aber am 23. Mai beendeten die Alliierten dieses Manöver und ließen jenen Teil der Dönitz-Regierung, der noch nicht Selbstmord begangen hatte, verhaften. Mit der Finte eines Separatfriedens hatten es nach der ersten Kapitulation der Heeresgruppe C in Italien schon Himmlers Statthalter SS-General Karl Wolff (1900–1984) und Generalfeldmarschall Albert Kesselring (1885–1960) mit dem US-Botschafter in der Schweiz vergeblich versucht.
Während die militärische Elite noch am 4. Mai von Firlefanz wie der „Ehre der deutschen Waffen“ schwärmte und „Holland nicht aus der Hand geben“ wollte (Alfred Jodl, 1890–1946, Chef des Wehrmachtführungsstabs), musste sich die entrechtete, geschundene und verblendete Zivilbevölkerung in einem Leben in zerstörten Städten mit sehr wenigen Lebensmitteln und ohne Strom, Wasser, Straßenbahnen, Züge, Busse und Zeitungen zurechtfinden.
Zeit zwischen Krieg und Frieden
Mit dem militärischen und politischen Zusammenbruch verschwanden Institutionen über Nacht und in den Köpfen der Überlebenden verdampften Vorstellungen von Recht, Ordnung, Anstand und Eigentum zu Residuen: „Jeder bestiehlt jeden, weil jeder bestohlen wurde und jeder alles brauchen kann“, notierte eine Zeitzeugin in ihrem Tagebuch über das Überleben im Chaos der Zeit zwischen Krieg und Frieden.
Mit einem sicheren Gespür für die Komposition sortiert Ullrich private Zeugnisse und Ergebnisse aus der historischen Literatur, aus Memoiren und Archiven zu einem rundum gelungenen Tableau der Umbruchszeit.
8 May 2020
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