taz.de -- Proteste in Bolivien: Wer schießt, bleibt straffrei

Empörung über ein Dekret der neuen Präsidentin, das den Einsatz des Militärs gegen Proteste befiehlt und Sicherheitskräfte vor der Justiz schützt.
Bild: „Militär, töte nicht das Volk“: Demonstration in Sacaba, Bolivien, Samstag

Berlin taz | Die Zahl der Toten bei gewaltsamen Auseinandersetzungen in Bolivien steigt weiter. Nach Angaben der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) starben allein am Freitag und Samstag mindestens neun Menschen, weitere 122 wurden verletzt. Damit sind seit Beginn des Konflikts rund um die Wahlen vom 20. Oktober 23 Menschen ums Leben gekommen, 755 wurden verletzt.

Für harsche Kritik sorgte ein am Freitag unterzeichnetes und am Samstag bekannt gewordenes Dekret der [1][De-facto-Präsidentin Jeanine Añez]. Es ordnet den Einsatz des Militärs „zur Verteidigung der Gesellschaft und der öffentlichen Ordnung“ im gesamten Land in Zusammenarbeit mit der Polizei an.

Alle Soldaten, „die an den Operationen zur Wiederherstellung der inneren Ordnung der öffentlichen Stabilität teilnehmen, sind von jeglicher strafrechtlichen Verfolgung ausgeschlossen“, wenn sie nach den Maßgaben der Verhältnismäßigkeit, der absoluten Notwendigkeit und der Legalität handelten.

Das ermuntere zur gewaltsamen Repression, kritisierte die CIDH. Die Organisation benennt Polizei und Streitkräfte als Verantwortliche für die neun Toten der letzten zwei Tage in der Nähe der Stadt Cochabamba, als sie gegen Demonstrationen gegen die neue Regierung vorgingen. Aus Kreisen der Interimsregierung hieß es, die Demonstranten hätten sich selbst erschossen. Die meisten Opfer wiesen Schusswunden im Nacken auf.

Die Regierung verteidigte am Samstag das Dekret. Präsidialamtsminister Jerjes Justiniano sagte, die Maßnahme sei ein Instrument, „zum sozialen Frieden beizutragen“. Aus seinem Exil in Mexiko schaltete sich [2][der zurückgetretene Expräsident Evo Morales] ein. Das Dekret sei ein „Freibrief, um das Volk zu massakrieren“, schrieb er auf Twitter.

17 Nov 2019

LINKS

[1] /Boliviens-Interimspraesidentin/!5638253/
[2] /Evo-Morales-tritt-zurueck/!5639965

AUTOREN

Bernd Pickert

TAGS

Bolivien
Evo Morales
Jeanine Añez
Schwerpunkt Coronavirus
Evo Morales
Jeanine Añez
Protest
Bolivien
Lesestück Recherche und Reportage
Evo Morales

ARTIKEL ZUM THEMA

Coronavirus in Lateinamerika: Auch Áñez in Bolivien infiziert

Nach Brasiliens Regierungschef Bolsonaro wurde auch Boliviens Übergangspräsidentin positiv getestet. Lateinamerika gilt als Zentrum der Pandemie.

Spannungen in Bolivien nehmen ab: Neuwahl ohne Morales

Das Parlament von Bolivien hat die Wahlen für ungültig erklärt und Ex-Präsidenten Evo Morales von den Neuwahlen ausgeschlossen. Das beruhigt die Lage.

Machtkampf in Bolivien: Wer tötete in El Alto?

Mindestens sieben Menschen wurden in El Alto erschossen. Nicht von Soldaten, sagt Boliviens Verteidigungsminister. Augenzeugen sahen etwas anderes.

Proteste in Bolivien: Machtkampf fordert sechs Tote

Die Ausschreitungen in Bolivien nehmen kein Ende. Währenddessen ringen die Parteien um eine politische Lösung.

Machtkampf in Bolivien: Fünf Tote nach Ausschreitungen

Bolivien kommt nicht zur Ruhe: Bei einem Zusammenstoß von Morales-Anhängern und der Polizei sterben fünf Menschen, Dutzende werden verletzt.

Proteste und Morales-Sturz in Bolivien: Wir alle waren verliebt in ihn

Evo Morales war mehr als ein Präsident, für die Indigenen Boliviens, für Linke in aller Welt. Jetzt ist er im Exil – und spaltet, statt zu versöhnen.

Morales-Rücktritt in Bolivien: Die Legende vom Putsch

Evo Morales trat unter Druck zurück. Doch die Rede vom Putsch ist fehl am Platz. Morales hat sich mit dem eigenen Machtanspruch schlicht verzockt.