taz.de -- Die Ukraine nach Selenskis Wahlsieg: Sprachlos in Kiew

Die Ukraine wird von einem Serienhelden regiert, der mehr von russischen Comedians versteht als vom eigenen Land. Ein intellektuelles Desaster.
Bild: Newcomer auf der politischen Bühne: Wolodimir Selenski

Im April 2019 wählte die Bevölkerung der Ukraine einen neuen Präsidenten. [1][Wolodimir Selenski], Komiker und Fernsehproduzent ohne politische Erfahrung, setzte sich deutlich gegen Amtsinhaber Petro Poroschenko durch, und im Sommer eroberte seine Partei „Diener des Volkes“ die absolute Mehrheit im ukrainischen Parlament. Nun ist die Ukraine seit einiger Zeit wieder in den Schlagzeilen. Doch der Wirbel betrifft fast ausschließlich ein Telefonat zwischen dem amerikanischen und dem ukrainischen Präsidenten und dessen mögliche [2][Auswirkungen auf die amerikanische Innenpolitik].

Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass es in dem Telefonat um Panzerabwehrwaffen für das ukrainische Militär ging, um der russischen Aggression zu begegnen. Und auch die aktuellen Zugeständnisse des ukrainischen Präsidenten gegenüber Putin müssen erwähnt werden, mit der er Bewegung in die [3][Verhandlungen über die Ostukraine] bringen will. Dieses Entgegenkommen sehen viele Ukrainer skeptisch, vor allem jene, die für eine demokratische Zivilgesellschaft auf dem Maidan eingetreten sind, unter ihnen auch zahlreiche SchriftstellerInnen und Intellektuelle.

Die Skepsis hängt mit der Sensibilität von Intellektuellen für das Spiel mit Fiktion, virtuellen Welten und medialen Blasen zusammen. Die Wahl Selenskis zum Präsidenten ist solch ein Spiel mit virtueller Realität. In der Fernseh-Satire „Diener des Volkes“ spielt Selenski einen leicht tollpatschigen Geschichtslehrer, der von der Politik genervt ist und ständig Schimpftiraden loslässt, die seine Schüler heimlich filmen und bei YouTube hochladen. Daraufhin wird der unerfahrene, aber ehrliche Lehrer zum Präsidenten gewählt und tritt an zum Kampf gegen Korruption und Oligarchen.

Es ist eine hübsche Geschichte, vor der jedoch ukrainische AutorInnen wie Juri Andruchowytsch, Oksana Sabuschko oder Serhij Zhadan warnen. Denn im April wurde eher der Serienheld gewählt als ein echter Präsidentschaftskandidat. Selenski und sein Team konstruierten sehr erfolgreich eine Scheinwelt, an die sie offensichtlich selbst glauben. Das Erwachen in der Wirklichkeit könnte jedoch sehr enttäuschend werden für die Bevölkerung.

Der Nutzen intellektueller Tätigkeit

Intellektuelle sollten nicht zu begeistert von Regierungen sein, gerade wenn sie deren Werte teilen. Eine kritische Haltung gegenüber der Regierung und allem, was sie tut, ist der eigentliche Nutzen intellektueller Tätigkeit. Eine Auswechslung politischer Eliten erfolgt allerdings nur durch die Mehrheit der Wählerschaft. In seltenen Fällen spielen dabei Vertreter der intellektuellen Minderheit eine Rolle.

Präsident Selenski gibt sich als volksverbundener Präsident, und deshalb scheinen ihm die Themen, die Intellektuelle und KünstlerInnen ansprechen, kaum nachvollziehbar oder seriös. Von manchen hört und sieht er überhaupt zum ersten Mal. Er kann nicht mit ihnen kommunizieren, und die negative Haltung des überwiegenden Teils der ukrainischen Intellektuellen gegenüber dem Präsidenten lässt sich ganz gut mit dem Sprichwort fassen: „Wie der Ochs vorm Berg.“

Und tatsächlich steht Selenski vor einem Berg von Ereignissen, Menschen und Situationen, die die ukrainische Gesellschaft gerade durchgemacht hat oder durchmacht und die von Intellektuellen bereits vielfach kommentiert wurden. Doch beim Präsidenten hat man den Eindruck, er hört und sieht das alles zum ersten Mal.

Der Kern des Problems ist nicht einmal, dass er als Newcomer die politische Bühne betritt. Mit Ausnahme des Apparatschiks Leonid Krawtschuk war kein ukrainischer Präsident jemals Berufspolitiker. Die ukrainische Gesellschaft ist in dieser Hinsicht erfrischend unkonventionell. Es geht vielmehr darum, dass die Gesellschaft mit der Präsidentenwahl ein Konsumverhalten an den Tag legte.

KonsumentInnen sind offensichtlich in der Mehrheit und ihre Interessen sind natürlich nicht nur werbekonform oder auf feste Gehälter, regelmäßigen Urlaub, niedrige Preise für Strom und Heizung und dergleichen ausgerichtet. KonsumentInnen wollen keine Kämpfe und keine Aufarbeitung individueller und kollektiver Traumata, sie wollen keine sozialen Herausforderungen bestehen, sich mit gesellschaftlichen Missständen, auch zukünftigen, auseinandersetzen, sie wollen nichts zu nah an ihre Komfortzone heranlassen.

Das ist natürlich eine grobe Verallgemeinerung. Darum zurück zur öffentlichen Rolle der Intellektuellen. Sie sollten allgemeinverständlich eine kritische Sicht auf das aktuelle politische Geschehen formulieren und sich entgegen dem verbreiteten Konsumverhalten auch für soziale und kulturelle Ziele einsetzen.

Wie der Ochs vorm Berg

Der gegenwärtige Präsident der Ukraine ist ein Mensch mit einem anderen soziokulturellen Code. Mit den kulturellen Grundwerten europäischer PolitikerInnen hat er nur wenig gemeinsam.

Während viele europäische PolitikerInnen zumindest vorgeben, das kulturelle Gedächtnis mit den Intellektuellen und KünstlerInnen in ihrem Land zu teilen und Debatten über soziale und kulturelle Werte nachvollziehen zu können, weiß der ukrainische Präsident nichts davon. Er steht wie der Ochs vorm Berg. Seine Referenz sind russische Comedians. Aber hat er schon einmal etwas von den ukrainischen DissidentInnen Iwan und Nadija Switlitschnyj gehört? Das ist eine andere Art der Kommunikation und Sprache.

SchriftstellerInnen und Intellektuelle arbeiten mit Sprache. Wenn man zum ersten Mal einen Menschen trifft, hört man nicht nur, was er sagt, sondern nimmt auch wahr, wie er es sagt. Wie der Präsident spricht und wie er kommuniziert, ist für die Mehrheit der Intellektuellen in der Ukraine unannehmbar. Es ist eine sprachliche und intellektuelle Vergewaltigung. Dass dies passieren konnte, dafür fühlen die Intellektuellen und Künstler eine Schuld. Sie ärgern sich über sich und andere, sie schämen sich für ihr Land – und vor allem vor sich selbst.

18 Nov 2019

LINKS

[1] /Neue-Regierung-in-der-Ukraine/!5621951
[2] /Impeachment-Anhoerung-in-den-USA/!5642169
[3] /Krieg-im-Osten-der-Ukraine/!5628909

AUTOREN

Alexander Kratochvil
Larysa Denysenko

TAGS

Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Wolodymyr Selenskij
Ukraine
Ukraine-Affäre
Kommunalwahl
taz на русском языке
Protest
Schwerpunkt Fridays For Future
USA
Ukraine-Affäre
Kommentar

ARTIKEL ZUM THEMA

Kommunalwahl in der Ukraine: Schlechte Karten für Selenski

Die Partei des ukrainischen Präsidenten „Diener des Volkes“ dürfte am Sonntag einbrechen. Eine zeitgleiche Volksbefragung sorgt für Ärger.

Verhandlungen beim Ukraine-Gipfel: Den Euromaidan verteidigen

In Paris wird im sogenannten Normandie-Format über einen Waffenstillstand im Osten der Ukraine verhandelt. Den Schlüssel dazu hat Wladimir Putin.

Demogeld für Protest in der Ukraine: Ein Tag bringt 15 Euro

In Kiew protestiern 2.000 Menschen vor der Nationalbank – dafür werden die Protestler teils bezahlt. Edler Spender soll der Oligarch Kolomojskyj sein.

Fridays for Future in der Ukraine: Kiewer Studis mobilisieren

Lorina Fedorova und Artur Sarkisyan haben in der Ukraine eine kleine Klimabewegung aufgebaut. Neben Protesten betreiben sie vor allem Bildungsarbeit.

Ukraine-Gate und die USA: Im Strudel des Skandals

Die Trump-Biden-Affäre wird dem Image der Ukraine im Hinblick auf Korruption massiv schaden. Das fürchten Beobachter in Kiew.

Ukraine-Krise verschärft sich: Botschafter belastet Trump

Der US-Präsident soll Militärhilfen für die Ukraine zurückgehalten haben, um dem Demokraten Biden zu schaden. Das sagte nun der US-Botschafter in Kiew aus.

Krieg im Osten der Ukraine: Im Donbass nichts Neues

Die Regierung in Kiew und Vertreter der Separatisten wollen sich auf die sogenannte Steinmeier-Formel geeinigt haben. Viel bringt das nicht.