taz.de -- Halbzeit von Rot-Rot-Grün in Berlin: Masse macht nicht Klasse
Die rot-rot-grüne Landesregierung rühmt sich zur Halbzeit vieler Wohltaten, doch die großen Brocken bleiben liegen. Eine Analyse.
„R2G ist, wenn man sich in der Halbzeit den Schlusspfiff herbeisehnt.“ So sieht es die CDU-Fraktion auf halbem Weg von der Abgeordnetenhauswahl im September 2016, die erstmals in Berlin eine [1][rot-rot-grüne Regierung] ins Amt brachte, bis zur nächsten, die normalerweise im Herbst 2021 ansteht. Aber ist das so? Für die führenden Köpfe des Senats erwartungsgemäß nicht – sie alle haben in diesen Tagen eine positive Halbzeitbilanz gezogen. Bei einem Pressegespräch der Landesregierung lagen dazu kleine Broschüren aus, in denen alle möglichen Vorhaben und Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag als erledigt abgehakt waren.
Beeindruckend viele Häkchen waren das. Nur waren es meist Dinge, über die es in einer linken Regierung auch kaum Streit geben kann: Gratisessen an Grundschulen, freie BVG-Schülerkarte oder ein beitragsfreier Kitaplatz. „Solidarisch“ ist ja auch eine der Überschriften des Koalitionsvertrags. Und weil die Kasse, also der Landeshaushalt, voll ist, hielten auch jene die Füße still, die es nicht so toll finden, dass auf Drängen der SPD auch Gutverdienende für all das nichts zahlen müssen. Wobei die Grünen-Fraktionsspitze vor zehn Tagen angedeutet hat, dass jetzt mal Schluss sein soll mit der Kostenlos-für alle-Politik.
Die schwierigen Themen aber, die zugleich die zentralen Probleme der Stadt sind, sie sind noch weitgehend offen: Wohnungsbau, Verkehr und Sicherheit. Dort prallen Grundüberzeugungen oder Parteiinteressen aufeinander.
Wer baut wie viele Wohnungen wo, und wie teuer dürfen sie sein? Allein in dieser Frage steckt viel Streitpotenzial, an dem sich vor allem SPD und Linkspartei abarbeiten – mit dem Ergebnis, dass das von R2G selbst gesetzte Ziel von 30.000 neuen Wohnungen bis ,zur nächsten Wahl schon jetzt unerreichbar scheint. Ungeklärt auch: Darf der Staat schon bestehende Wohnungen per Enteignung übernehmen? Ja, sagt die Linkspartei, Nein, die SPD, als Jein lässt sich die Haltung der Grünen werten.
Manchmal schwieriger als früher mit der CDU
Und wie ist der Straßenraum aufzuteilen zwischen den Verkehrsgruppen, wie viel Platz bekommen künftig Busse, Radfahrer und Fußgänger neben Autofahrern? Und warum dauert das so lange? Wie wiederum sind Sicherheitsbedürfnis und Videoüberwachung einerseits und die Angst vor Überwachung andererseits gegeneinander abzuwägen? Der SPD-Innensenator setzt auf behutsamen Videoeinsatz, die Grünen schließen ihn nicht völlig aus, während die Linken komplett dagegen sind.
Keine dieser zentralen Fragen hat der rot-rot-grüne Senat seit Amtsantritt wirklich beantwortet. Bei der Bilanzpressekonferenz mit den Broschüren und den vielen Häkchen ist es Regierungschef Michael Müller (SPD), der offenbar in Richtung Linkspartei sagt, dass es nicht reiche, nur einen Koalitionsvertrag abzuarbeiten – dann könne man sich auch hinlegen, Beamte das erledigen lassen und zur nächsten Wahl wieder aufwachen. Müller sagt zugleich, er fühle sich sehr wohl in dieser Koalition. Das muss kein Widerspruch sein: Auch sonst ist in der SPD schon mal zu hören, menschlich passe es zwischen den drei linken Parteien, aber Kompromisse zu finden sei manchmal schwieriger als früher mit der CDU.
Zu zwei großen Fragen wird die Koalition zwangsläufig eine gemeinsame Position finden müssen: Zum Thema Enteignung, das mit dem Großunternehmen Deutsche Wohnen in den Fokus geraten ist, und zur Videoüberwachung stehen Volksbegehren an. Hier zwingt die Landesverfassung den Senat, über seine Haltung zu informieren – über die gemeinsame, nicht über die jeweilige von SPD, Linkspartei oder Grünen.
Und dann ist da noch mehr und mehr Verkehr in der jährlich um 40.000 Menschen wachsenden Stadt. Das von vielen Radfahrern mit großen Hoffnungen erwartete und schließlich im Juni 2018 beschlossene Mobilitätsgesetz mündet bislang gefühlt in eine Ankündigung, einen im Kern längst existierenden Radschnellweg ausgebaut 2024 zu eröffnen, und in einen abgepollerten Radweg in Lichterfelde. Dort, wo, soweit bekannt ist, kein Radfahrer je danach gerufen hat und wo, weil die Straße breit ist, auch wenig Protest von Autofahrern zu erwarten war – wo aber die in diesem Bereich federführenden Grünen später sagen können, sie hätten soundso viele Kilometer dieser [2][Protected Bike Lanes] bauen lassen.
„Wünsch dir was“ – aber keine aktive Politik
Es fehlt der Mut, sich wirklich mit Autofahrern anzulegen, ihnen gerade an gefährlichen Kreuzungen Platz und Parkplätze zu nehmen, damit Radfahrer und Fußgänger besser zu sehen sind. Die Verantwortung von sich wegzuschieben und wie Verkehrssenatorin Regine Günther zu fordern, die Leute sollten doch ihr Auto abschaffen, ist „Wünsch dir was“, aber keine aktive Politik.
Das Widersprüchliche dabei ist, dass in Umfragen eine klare Mehrheit unzufrieden mit dem Senat ist, trotzdem aber zweieinhalb Jahre nach der Abgeordnetenhauswahl mehr Leute als damals für SPD, Linkspartei und Grüne stimmen würden. Damals waren es knapp über 52 Prozent, nun sind es in der jüngsten Umfrage 57 Prozent – jetzt mit den Grünen statt damals der SPD als stärkster Kraft. Denn das heißt bloß: Alle anderen vorstellbaren Regierungen erscheinen offenbar noch weniger fähig als R2G, die großen Probleme der Stadt zu lösen.
Für Rot-Rot-Grün mag das beruhigend sein. Für Berlin ist es schade.
Der Text ist Bestandteil eines Schwerpunktes in der Printausgabe der taz.berlin vom Wochenende 16./17. März 2019.
16 Mar 2019
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