taz.de -- Die Wahrheit: Den Schlund voller Dhal

Die unwirtlichsten Unterkünfte der Welt (9): Eine verspätete Hochzeitsnacht auf einem Hausboot während des Monsuns in Indien.
Bild: Bereit für eine traumhafte Nacht: ein Kettuvallam

Wir waren spät dran. Das Kettuvallam schaukelte schon empfangsbereit. Aber es gab Unstimmigkeiten. Der Agent verhandelte wild mit Anish, unserem Fahrer. Beide stritten sich offenbar über den Preis, obwohl der vorher ausgemacht worden war. Leider auf Malayalam. Wir verstanden kein Wort. Doch wie immer, wenn man in Indien fragte, wackelten die Köpfe und alles war in Ordnung: „Everything’s fine“. Endlich führte uns der Agent zum Boot, stellte uns den Käpt’n vor, der nur wenige Brocken Englisch beherrschte, und Anish erklärte, dass er uns morgen früh am selben Platz in Alleppey abholen werde. Dann legte das Hochzeitsboot ab.

Wir waren drei Tage in den Bergen unterwegs gewesen. Thekkady, Periyar Lake, Munnar. Eine Nacht verbrachten wir in einem der aufregendsten Hotels der Welt, dem Blackberry Hills Resort, das am Hang entlang gebaut ist und 900 Meter Höhenunterschied überwindet. Das Hotelrestaurant lag über den Wolken, und das ganze gewaltige Tal breitete sich unter einem aus. Allerdings trug der Wind den Regen von unten nach oben, im Zimmer war es elend klamm, selbst auf den Laken schimmerte ein feuchter Film. Da half nur, sich ebenfalls zu befeuchten – und zwar von innen mit einem trockenen Drink.

Trotz der Nässe schliefen wir wie die Toten, erschöpft vom Tag. Wir hatten die schlimmste Busfahrt unseres Lebens hinter uns. Anish hatte uns an einer Junction abgesetzt, an der er mit dem Wagen nicht mehr weiterkam. Es gäbe jedoch den Bus nach Eravikulam. Das müssten wir unbedingt sehen: „Goats!“ Ziegen? Warum sollten wir irgendwelche Ziegen ansehen?

Mörderritt am Abgrund

Der Bus war eher ein Minivan, und wir füllten die schmale letzten Reihe, in der sonst sechs Inder Platz hatten. Die saßen nun vor uns und kicherten erregt über das, was kommen sollte: Es war ein Mörderritt am Abgrund! Der Busfahrer bretterte einen irrsinnig hohen Berg hinauf, links lachte der Tod in gefühlt tausend Metern Tiefe. Die Schotterpiste führte noch einmal tausend Meter hinauf und war allenfalls einen Meter breit. Besonders gruselig war der Gegenverkehr, wenn ein Bus auf dem Weg nach unten war. Die Inder quietschten die ganze Zeit gottergeben, während wir uns an den Hände fassten und versuchten, nicht an die bekannten Schlagzeilen zu denken: „Busunglück in Indien – 30 Tote.“ Und das alles für ein paar Steinböcke und Gemsen, die die Inder beglotzten wie Jahrmarktsattraktionen.

Und dann kam der Monsun. Zum Glück waren wir schon auf dem Weg aus den Bergen hinab in die Backwaters. „Monsun no problem“, versicherte Anish, während um uns herum die Wellen an die Ufer der Flüsse klatschten. Aus Rinnsalen wurde reißende Ströme. Kleine Wasserfälle glichen plötzlich den Niagaras. Lächelnd jagte Anish das Auto über die Serpentinen.

Monsun ist nicht gleich Monsun. Zwischen Juni und August gibt es zwei bis drei Phasen. Der erste Monsun kommt von Osten und regnet sich meist an den Bergen zwischen Kerala, dem südwestlichen Florida Indiens, und Tamil Nadu, dem südöstlichen Bundesstaat, aus. Einmal am Tag, oft zur selben Zeit um achtzehn Uhr, fallen für eine halbe Stunde Katzen und Hunde vom Himmel. Die Temperatur sinkt von 35 auf 32 Grad, der Boden saugt die Flüssigkeit auf, der Rest Wasser verdampft.

Der Monsun ist eine Zeit des Glücks. Die Trockenheit ist vorbei, alles fließt, auch die Säfte und Säuren im Körper. Es sei die beste Zeit für die Therapie von Krankheiten, die Ayurveda sei dann am erfolgreichsten, behaupten die Ärzte in Thiruvananthapuram, dem Zentrum der traditionellen Heilkunst Keralas.

Der zweite Monsun im August ist heftiger. Manchmal regnet es den ganzen Tag, eine regelrechte Wand aus Wasser steht in der Luft. Daraus nähren sich die in den übrigen Monaten fast ausgetrockneten Wasserarme ebenso wie die weiten Reisfelder bis hin zu den Backwaters, jenem Kanal- und Seenreich, das vor dem Meer ein natürliches Klimaaustauschsystem bildet, das Mensch und Tier nicht nur Nahrung bietet, sondern das Überleben gegen die Hitze sichert.

Inzwischen schipperten wir mit dem Kettuvallam, dieser ehemaligen Lastbarke, die umgebaut worden war zu einem Hausboot, über den See – und legten gleich wieder an. Ein Fischerdorf, in dem wir zu einem erstaunlich überhöhten Preis einen Fisch fürs Abendessen kaufen sollten. Aber da wir den flachen Riesenfisch ungerührt bezahlten, war der Käpt’n genauso zufrieden wie die Fischerin, die offenbar das Geschäft ihres Lebens gemacht hatte. „For Kitchen“, meinte der Käpt’n in seinem Pidgin-Englisch und wies nach hinten. Auf dem rund zwanzig Meter langen und vier Meter breiten Boot war im Heck eine Küche untergebracht.

Das schmutzigste Bett der Welt

Unsere muffig stinkende Kabine hatten wir bereits kennengelernt. Heute Nacht würde uns das schmutzigste Bett der Welt erwarten. Die drei Zähne im Mund des wettergegerbten Seebären blitzten vor Freude. Jemand hatte uns vorher dieses Kettuvallam als „Hochzeitsboot“ verkauft. Das müssten wir unbedingt mitmachen: ein romantisches Candle-Light-Dinner auf stimmungsvollen Nachtgewässern im Monsun. Dabei lag unsere Hochzeitsnacht schon ein paar Jährchen zurück, und wir hatten nach der anstrengenden Bergtour sicher nicht vor, auf dem schaukelnden Gefährt nächtliche Turnübungen zu veranstalten.

Das Boot bog in einen der unzähligen Kanäle ein und ging vor Anker. Wie? Das war’s schon? Nur eine Stunde Fahrt? Es war doch erst sechs Uhr abends? „Food. Monsun“, radebrechte der Käpt’n. Offenbar waren wir tatsächlich etwas spät dran, wenn auch nicht für das Abendessen, das nun ein smutjeartiges altes Männlein im unterhosigen Lunghi zu servieren begann – zwar für indische Verhältnisse etwas früh, aber wir hatten Hunger und freuten uns über die acht Gänge.

„Lunch“, erläuterte der Käpt’n, und wir schaufelten gern das Dhal hinein, diesen wunderbar schmackhaften Linsenbrei, der allerdings wie Wackersteine im Magen liegen sollte. Aber wieso eigentlich Lunch?, fragten wir uns irritiert. Mittagessen? Strahlend räumte der Smutje die leeren Teller ab. „Now dinner“, sprach der Käpt’n, und schon standen wieder gefüllte Teller auf dem Tisch, diesmal zwölf. In der Mitte als Höhepunkt der Riesenfisch. Dinner? Jetzt? Wir konnten nicht mehr, aber ergaben uns in unser Schicksal, probierten vom köstlichen Plattfisch und schaufelten wieder das Dhal hinein, bis es beinah aus unseren Schlünden quoll.

Augenzwinkernd verließen der Käpt’n und der Smutje das Boot bis zum Morgengrauen. Doch zuvor setzte der Monsun wieder ein. Mit einem Klotz im Bauch hockten wir vor der Pladderwand und freuten uns bereits aufs Frühstück.

21 Aug 2018

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Michael Ringel

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