taz.de -- Rechte Gewalt in Niedersachsen: Als Opfer gezählt
Die Grünen in Niedersachsen fordern, dass Todesopfer rechter Gewalt als solche anerkannt werden. Darauf warten Angehörige seit Jahren.
Hannover taz | Matthias Knabe ist einer der Namen, den die Landtagsabgeordnete Julia Hamburg (Grüne) in Erinnerung rufen will, für den sie Gerechtigkeit will. Fünfzehn rechtsextreme Skinheads griffen den 23-jährigen Punk am 8. Mai 1991 bei Gifhorn an. „Er wurde von denen auf die Straße getrieben“, sagt Hamburg. „Regelrecht gejagt.“ Ein Auto erfasste ihn. Matthias Knabe starb am 4. März 1992 an seinen schweren Hirnverletzungen. Als Opfer rechtsextremer Gewalt ist Knabe bis heute nicht offiziell in Niedersachsen anerkannt. Das will die Politikerin ändern.
Die Grünen wollen im niedersächsischen Landtag eine Initiative zur nachträglichen Anerkennung von Todesopfern rechter Gewalt einbringen. Die Amadeu-Antonio-Stiftung hat acht Opfer in Niedersachsen identifiziert. Anerkannt sind davon nur zwei. Im Fall von Knabe habe der Täter „auch in der Gerichtsverhandlung keinen Hehl daraus gemacht, dass er ein Nazi ist und das Opfer abgelehnt hat, weil der eine ‚Zecke‘ sei“, sagt Hamburg. „Trotzdem ist das in der Statistik kein Nazimord.“
Das Problem sei, dass die Statistiken für Fälle, in denen bereits ein Urteil gesprochen wurden, nicht mehr im Nachhinein verändert werden könnten. „Wir wollen, dass sich Pistorius im Bund für eine Änderung einsetzt“, sagt die Abgeordnete. „Die Kriterien, was als politisch motivierte Straftat gilt, werden im Bund festgelegt.“ Zudem sei es notwendig, dass die niedersächsischen Polizisten noch stärker für das Thema rechte Gewalt sensibilisiert würden.
Vom niedersächsischen Innenministerium war bis Redaktionsschluss nicht zu erfahren, wie Minister Boris Pistorius (SPD) zu einer nachträglichen Anerkennung der Opfer rechter Gewalt steht.
Die CDU-Fraktion will die Initiative der Grünen jedoch unterstützen. „Die Anerkennung von Opfern rechter Gewalt ist etwas, das auf jeden Fall umgesetzt werden muss“, sagt der Abgeordnete Uwe Schünemann. „Da muss man ein Zeichen setzen.“ Die Amadeu-Antonio-Stiftung zählt die Todesopfer rechter Gewalt in ganz Deutschland. Insgesamt seien mindestens 193 Menschen von Rechten getötet worden. Das Bundesinnenministerium geht offiziell nur von 83 Todesopfern rechter Gewalt seit 1990 aus.
Damit ein Fall in der Statistik lande, müsse der erste Polizist, der den Fall bearbeite, auf der Wache das Häkchen an der richtigen Stelle setzen, sagt Robert Lüdecke von der Stiftung. Insbesondere in den 90er-Jahren seien viele rechte Skinheads nur als jugendliche Straftäter verurteilt worden. „Die Taten wurden entpolitisiert“, sagt Lüdecke. Die nachträgliche Anerkennung sei auch deshalb schwierig, weil bei den Jahrzehnte alten Fällen die Aktenlage oft dünn sei.
Opfer rechter Gewalt haben einen Anspruch auf Gelder aus staatlichen Entschädigungsfonds. Darum gehe es den Angehörigen aber nicht. „Sie fragen sich, warum ihr Sohn sterben musste“, sagt Lüdecke. Eine Anerkennung bedeute auch, dass der Staat zugebe, „dass er nicht in der Lage war, seine Bürger zu schützen“.
Urteil gegen Beate Zschäpe
Die Grünen haben die rechtsextremen Gewalttaten als Reaktion auf [1][das Urteil gegen Beate Zschäpe] im NSU-Prozess thematisiert. Die Fraktion fordert zudem eine parlamentarische Aufarbeitung der „Verstrickungen des sogenannten NSU und der hiesigen rechten Szene sowie der Sicherheitsbehörden“ in Niedersachsen. „Wir können noch nicht sagen, welche Rolle der Verfassungsschutz gespielt hat“, sagt Hamburg. Zudem sei unklar, ob auch in Hannover Akten geschreddert wurden, um Zusammenhänge zu vertuschen.
Zunächst wolle sie durch Anfragen Antworten bekommen. „Einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss schließen wir aber nicht aus.“ Die Aufklärung hätten die Grünen allerdings längst haben können, saßen sie doch bis zum vergangenen Oktober noch selbst in der Landesregierung.
Schünemann hält die NSU-Verstrickungen in Niedersachsen für intensiv aufgeklärt: „Noch zu meiner Zeit gab es sofort Untersuchungen“, sagt der Ex-Innenminister. „Da ist beim Staatsschutz und beim Verfassungsschutz wirklich alles umgedreht worden.“ Weitere Erkenntnisse habe es damals nicht gegeben.
Minister Pistorius äußerte sich nach Bekanntwerden des Urteils gegen Zschäpe, die lebenslang in Haft muss, auch zur Rolle der Sicherheitsbehörden. „Niedersachsen scheint davon nicht betroffen zu sein“, sagte Pistorius. Ob nach dem Prozess in München noch weiter ermittelt werden müsse, müssten andere entscheiden.
12 Jul 2018
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