taz.de -- Zum Kampftag der Arbeiterklasse: „Nicht alle neuen Jobs sind prekär“
Die Zeit, mehr Geld zu fordern, ist günstig für Arbeitnehmer und Gewerkschaften, sagt der neue DGB-Chef Christian Hoßbach vor dem 1. Mai.
taz: Herr Hoßbach, gerade gab es einen von allen Seiten gelobten Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst. Sind die Gewerkschaften wieder auf dem Vormarsch – oder ist einfach mehr Geld in der Kasse?
Christian Hoßbach: Beides. Wir haben eine gute wirtschaftliche Situation, was die Leute auch sehen. Das schafft Spielräume für gute Tarifabschlüsse. Und die Arbeitsmarktlage hilft: Wenn die Arbeitgeber tagtäglich über Fachkräftemangel klagen, dann entwickeln sie kräftig das Bewusstsein mit, dass sich die Position der ArbeitnehmerInnen und der Gewerkschaften verbessert hat.
Merken Sie das an Eintrittszahlen?
Natürlich. Tarifrunden sind immer die Zeiträume, in denen die meisten in Gewerkschaften eintreten. Dann und in jungen Jahren, während der Ausbildung.
In Berlin boomen ja gerade Branchen, die bekannt sind für prekäre und schlecht bezahlte Jobs wie das Hotel- und Gaststättengewerbe, Gebäudewirtschaft, Lieferdienste, Logistik. Gehe ich recht in der Annahme, dass die gewerkschaftliche Organisation in diesen Branchen nicht so hoch ist?
Ja. In Berlin hält die Mitgliederentwicklung leider nicht ganz Schritt mit der steigenden Beschäftigung. Da muss man nicht drumherum reden. Und nochmals ja: Branchen mit praktisch durchgehend prekärer Arbeit sind extrem schwierig zu organisieren. Aber die neuen Jobs sind nicht alle nur prekär. Von Gastronomie bis Pflege gibt es große Bereiche mit hohen Anteilen unsicherer und schlecht bezahlter Beschäftigung. Das ist aber anders gelagert in Kreativwirtschaft und IT. Hier gibt es auch viel unsichere Beschäftigung, aber wir würden einen Fehler machen, nicht zu sehen, dass das auch mit der Kultur in diesem Bereich zu tun hat: Man fühlt sich locker, arbeitet gerne viel und fühlt sich nicht so unter Druck. Zudem ist die Arbeit in diesen Bereichen zwar unsicher, aber besser bezahlt – und es gibt auch einen Anteil ordentlich bezahlter, fester Jobs.
Die Arbeitnehmer sehen keine Notwendigkeit, in die Gewerkschaft zu gehen?
Es gibt bei vielen erst mal kein so großes Interesse – selbst bei den größeren Unternehmen in der Digitalwirtschaft. Wobei ich hier die Betonung auf „erst mal“ legen würde, denn das ist eine Frage der Zeit. Und wir tun ja einiges: Die Gewerkschaften werben um die Leute in Start-ups, um die ITler – durchaus mit Erfolg. Die Belegschaften sind häufig sehr jung, die sehen keine Probleme mit dem Arbeitgeber. Da entwickelt sich eine Interessenvertretung eben erst, wenn die Probleme auftauchen.
Die Leute kommen erst zur Gewerkschaft, wenn sie Probleme auf der Arbeit haben?
Na logisch, ganz klar. Das klingt jetzt so, als seien die Gewerkschaften nur eine Art Reparaturbetrieb. Das stimmt so natürlich nicht, wir gestalten ja auch mit. Aber Interessen werden in Konfliktlagen natürlich klarer: Leute lassen sich beraten, treten ein, organisieren sich. Umso mehr betonen wir, dass unser wichtigstes Regelungsinstrument – Tarifverträge – für beide Seiten positiv ist. Auch für die Arbeitgeber. Tarifverträge können ja nicht nur die Quantität regeln, also die Höhe der Gehälter, sondern auch qualitative Fragen – Arbeitszeit, Qualifizierung. Auch die Arbeitgeberseite ist gut beraten, die Entwicklung von solchen Regelwerken zu suchen und nicht zu meinen, das könne man alles allein im Unternehmen klären.
Selbst das Land Berlin ist als Arbeitgeber nicht mehr so beliebt. Derzeit protestieren unter anderem Feuerwehrleute, Erzieher, Krankenhaus-Mitarbeiter, studentische Hilfskräfte. Ist das richtig, jetzt die Auseinandersetzung zu suchen? Immerhin haben wir nun einen rot-rot-grünen Senat, der sich sehr für „gute Arbeit“ einsetzt.
Trotzdem muss man die Aktionen verstehen, da muss sich niemand drüber wundern. Der öffentliche Dienst hat überall Probleme, aber in Berlin besonders, weil wir hier fünfzehn Jahre lang knallharte, brutale Sparpolitik gesehen haben – ohne Rücksicht auf Verluste. Die Leute verdienen weniger als in anderen Regionen und Bundesländern, wir haben jede Menge Probleme mit Ausgründungen von landeseigenen Betrieben – Stichwort: CFM an der Charité –, wir haben die Unsicherheit unter anderem der Musikschullehrer sowie zig weitere Baustellen. Aber der Berliner Senat hat reagiert und eine Reihe dieser Problemfelder entweder schon geregelt, oder er ist zumindest dabei, dies zu tun. Dass man das nicht auf einen Schlag hinbekommt, ist klar, da die Entwicklung über so viele Jahre in die falsche Richtung gelaufen ist. Und dass die Stadt jetzt wächst, vergrößert die Herausforderung für die Politik.
Ist der Senat glaubwürdig mit seiner Kehrtwende? Immerhin war es Rot-Rot, das das „Sparen, bis es quietscht“ propagiert hat.
Das fing ja schon vorher an, in den 1990er Jahren. Zudem ist unstrittig, dass wir heute ganz andere wirtschaftliche Rahmenbedingungen haben und auch eine ganz andere politische Akzentsetzung. Darum ist im Großen schon ein Vertrauen in die Politik da – auch wenn es im Einzelnen sicher noch Auseinandersetzungen geben wird.
Welche drei Dinge müsste der Senat am dringendsten angehen, wenn es nach Ihnen ginge?
Vor allem brauchen wir eine Gesamtstrategie zur Stärkung der Einkommen in der Stadt. Dazu gehören verschiedene Elemente: eine gute Bezahlung im öffentlichen Dienst, eine konsequentere Fachkräfte- und Qualifizierungspolitik, eine gute Strukturpolitik – und außerdem Regeln, durch die endlich Tariftreue erreicht wird in allen Bereichen, auf die der Senat Einfluss hat. Denn wir haben eine gute wirtschaftliche Entwicklung, eine wachsende Bevölkerung – aber immer noch unterdurchschnittliche Einkommen. Die Story, dass Berlin so schön billig ist, stimmt einfach nicht mehr. Darum müssen die Einkommen dringend steigen.
30 Apr 2018
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