taz.de -- Schlacht um Mossul im Irak: Die Hölle auf Erden

Im Kampf gegen den IS geraten Zivilisten zwischen die Fronten. Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten, sie zu schützen, sagt Amnesty International.
Bild: Zurückerobert: Straße im noch heftig umkämpften Westteil der Stadt

Kairo taz | Wenn es eine Hölle auf Erden gibt, dann liegt sie derzeit in West-Mossul. Straße für Straße, Haus für Haus kämpft sich die irakische Armee gegen die Dschihadisten des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) vor, unterstützt von der US-Luftwaffe. Der Vormarsch geht langsam voran und ist auf beiden Seiten verlustreich. Und mittendrin versuchen bis zu einer halben Million Zivilisten zu überleben. Sie sitzen in der Falle.

US-General Stephen Townsend [1][hat eingeräumt], dass die US-Luftwaffe wahrscheinlich am 17. März am [2][Bombardement eines Gebäudes in West-Mossul] beteiligt war, bei dem weit mehr als 100 Zivilisten ums Leben gekommen waren. Die irakische Armee hatte sie zu Beginn der Offensive angewiesen, in ihren Häusern zu bleiben. Nun hindert sie der IS an der Flucht, missbraucht sie skrupellos als menschliche Schutzschilde.

Auch Amnesty International hat in einem Bericht die alarmierend hohe Zahl an toten Zivilisten angeprangert. „Unsere Recherche hat gezeigt, dass es eine sehr hohe Zahl an toten Zivilisten gibt, entweder durch Luftangriffe der Alliierten oder durch die Bodenkämpfe zwischen der irakischen Armee und IS-Kämpfern“, erklärt die Autorin des Berichts, Donatella Rovera, gegenüber der taz.

Wie viele Zivilisten dort in den letzten Wochen umgekommen sind, weiß niemand „Es gibt keine Zahlen“, sagt Rovera, die vor wenigen Tagen von einer Fact Finding Mission aus Mossul zurückgekehrt ist. In einem Fall hat Rovera mit der 23-jährigen Hind gesprochen. Sie war die einzige Überlebende ihrer gesamten 12-köpfigen Familie. Ihr Haus war am Morgen zerstört worden.

Wie durch ein Wunder hatten es aber zunächst alle geschafft, aus den Trümmern lebend herauszukommen. Sie sind dann in das Haus eines Onkels geflüchtet, um dort Schutz zu finden. Wenige Stunden später, am gleichen Tag, wurde auch das bombardiert. Das war der Zeitpunkt, als elf Familienmitglieder von Hind getötet wurden.

„Es gibt viele solcher Fälle, immer wieder habe ich Menschen gesprochen, die mir ähnliche Schicksale erzählt haben“, berichtet Rovera. „Die Tatsache, dass der IS Zivilisten als menschliche Schutzschilde verwendet, bedeutet nicht, dass die Anti-IS Koalition von den Pflichten des internationalen Rechts entbunden ist“, kritisiert sie.

„Wenn der IS Scharfschützen auf einem Gebäude positioniert, dann ist das keine Lizenz, eine große Bombe über diesem Haus abzuwerfen und das gesamte Haus zu zerstören mit all den Menschen, die dort leben“, sagt sie. „Zivilisten sind derzeit Geiseln auf beiden Seiten. Die eine Seite hält sie als menschliche Schutzschilde und die andere tötet sie“, fasst sie die Lage der Einwohner West-Mossuls zusammen.

Zwei Empfehlungen von Amnesty

Sie sei nicht naiv, sagt Rovera, natürlich gebe es in einem Häuserkampf viele Tote. Und manche der Vorfälle mit einer hohen Zahl an toten Zivilisten wirken, als hätte der IS seinen Gegnern bewusst eine Falle gestellt, um der Welt dann nach einem amerikanischen Bombardement grausame YouTube-Videos von verschütteten Familien und Kindern präsentieren zu können.

Aber, sagt die erfahrene Ermittlerin von Kriegsfolgen, es gebe durchaus Möglichkeiten, die Zivilbevölkerung zu schonen. „Zuerst muss ich die Zivilisten aus einem aktiven Kampfgebiet evakuieren. Anstatt den Leuten zu sagen, sie sollen zu Hause bleiben, sollten humanitäre Korridore geöffnet werden. Damit die Menschen so schnell wie möglich dort raus kommen“, fordert sie.

Ihre zweite Empfehlung betrifft den Einsatz der Mittel. „Es ist auch eine Frage, welche Munition ich einsetze. Wenn drei IS-Kämpfer auf einem Dach positioniert sind, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass in dem gleichen Haus eine oder mehrere Familien leben.

„Es ist einfach nicht akzeptabel, dort eine Bombe abzuwerfen und das gesamte Haus zu zerstören“, führt sie aus. „Es gibt Munition, die genauer ist und einen geringeren Explosionsradius hat.“ Der Schutz von Zivilisten ist nicht nur ein moralisches Gebot und eine Verpflichtung des Völkerrechts. Er ist auch entscheidend für die Zukunft Mossuls und des ganzen Irak. Je skrupelloser der IS mit der Zivilbevölkerung in Mossul umgeht, desto bedachter sollte die Anti-IS-Koalition sein, um zivile Tote zu verhindern. Das muss die Maxime sein.

2 Apr 2017

LINKS

[1] /Nach-Luftangriffen-in-West-Mossul/!5396932
[2] /Kampf-gegen-den-IS-im-Irak/!5392396

AUTOREN

Karim El-Gawhary

TAGS

Mossul
Irak
Amnesty International
„Islamischer Staat“ (IS)
Zivilisten
Irak
Schwerpunkt Syrien
Amnesty International
Irak
Amnesty International
Schwerpunkt Syrien
Irak
Irak
Mossul
Irak

ARTIKEL ZUM THEMA

Nach Rückeroberung von Mossul: Amnesty fordert Ermittlungen

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International verlangt eine unabhängige Kommission. Sie solle Verbrechen „durch alle Konfliktparteien“ untersuchen.

Kampf um Mossul: Nahrungsmittel als Waffe

Seit Februar kämpft die Armee um den Westteil der Stadt Mossul. Bis Ende Mai soll der IS vertrieben sein, sagt ein Generalleutnant.

Hinrichtungen weltweit: Wenn der Staat zum Mörder wird

Laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wurden 2016 weniger Menschen hingerichtet als im Rekordjahr 2015.

Selbstmordattentate im Irak: Mindestens 31 Tote bei IS-Angriffen

In der nordirakischen Stadt Tikrit haben Kämpfer des IS mindestens 31 Menschen getötet. Die Angreifer waren als Polizisten verkleidet in die Stadt gekommen.

Nach Luftangriffen in West-Mossul: US-General geht von Beteiligung aus

Das US-Militär bekennt sich zu einer möglichen Mitschuld am verheerenden Luftangriff auf die irakische Stadt. Man habe nicht absichtlich auf Zivilisten gezielt.

Zivile Tote im Krieg gegen den IS: „Deutschland trägt Verantwortung“

Die Opferzahl westlicher Luftangriffe gegen den IS steigt. Die Opposition in Berlin macht Druck und die Regierung spricht erstmals von Konsequenzen.

Kampf gegen den IS im Irak: Mossul im Schatten Aleppos

Immer mehr Zivilisten geraten in Mossul zwischen die Fronten. Ein mutmaßlicher Luftangriff hat bis zu 240 Tote gefordert. Vieles bleibt offen.

Airwars.org über zivile Opfer in Mossul: „Ein katastrophaler Vorfall“

In Mossul sind womöglich hunderte Zivilisten durch einen Luftschlag getötet worden. Chris Woods, Direktor der NGO airwars.org, über die Hintergründe.

Explosion in Mossul: Mehr als 100 Zivilisten sterben

Seit Wochen läuft die Offensive, um Mossul aus der Gewalt der IS-Terrormiliz zu befreien. Nun gibt es Berichte über eine verheerende Explosion.

Islamexperte über Mossul-Offensive: „Nicht nur symbolische Niederlage“

Der IS wird schrittweise aus der Stadt im Irak vertrieben. Doch die Auffanglager sind zu klein für alle fliehenden Zivilisten, meint Guido Steinberg.