taz.de -- Helfer über Obdachlosigkeit in Berlin: „Ein Bier kann Leben retten“

Der Leiter der Bahnhofsmission vom Berliner Bahnhof Zoo berichtet, wie man mit Menschen auf der Straße umgehen sollte.
Bild: „Ein Gemeinwesen kann nur mit gegenseitiger Rücksichtnahme existieren“, sagt Dieter Puhl von der Bahnhofsmission

taz: Herr Puhl, die Menschen stehen Schlange vor dem Eingang. Draußen herrschen Minusgrade. Hat die Bahnhofsmission genug Kapazitäten?

Dieter Puhl: Die Herausforderung ist es, weitere solche Einrichtungen in Berlin aufzumachen. Ich will hier kein Ghetto für Obdachlose aufmachen. Die Leute haben vor Jahren schon gesagt: „Dahinten eröffnet ein Riesenrad, daneben Waldorf-Astoria. Ein Pennerladen wird hier keinen Platz finden.“ Inzwischen expandieren wir, während andere Einrichtungen schließen. Andererseits: Wenn vor meiner Tür die Bahnhofsmission Zoo öffnen würde, würde ich eine Bürgerinitiative dagegen gründen.

Angenommen, es gäbe diese Bürgerinitiative und Sie wären der Chef der Mission, was würden Sie diesen Leuten sagen?

Ich würde sagen: „Ein Gemeinwesen kann nur mit gegenseitiger Rücksichtnahme existieren.“ Aber ich würde auch sagen: „Guckt euch den Laden bitte einen Tag an.“ Danach kann ich noch immer verstehen, wenn jemand ab und zu einen dicken Hals hat. Aber es bekommt eine andere Betonung.

Sie haben auf Facebook geschrieben, dass die Bahnhofsmission vielen Menschen oft nur ein „langsameres Sterben“ bieten kann. Ist das nicht zynisch?

Bezogen auf die Menschen aus Osteuropa, die hierher kommen in der Hoffnung auf Leben und denen wir oft nur ein langsameres Sterben gewähren können, ist das leider so.

Fakt ist ja, dass es immer mehr Obdachlose in Berlin gibt. Sie selbst gehen von mindestens 7.000 obdachlosen Menschen aus. Das liegt ja nicht nur an den Zuzüglern aus Osteuropa.

Es gab hier früher in Berlin eine Szene, in der Sozialarbeit noch gegriffen hat. Da gab es 500 bis 1.000 Obdachlose und die Zahl hielt sich. Wir hatten gute Wohnprojekte, man konnte mit Menschen ein bis drei Jahre arbeiten. Heute hat man dafür maximal ein dreiviertel Jahr. Kostendruck, es ist kein Geld da. Die Gesellschaft hat sich schon fast daran gewöhnt. Und auf dieser Basis sind jedes Jahr weitere Menschen dazugekommen. Sowohl Deutsche als auch Menschen aus Osteuropa. Ich habe gerade gelesen, in Polen seien „erst“ 15 Menschen erfroren. Und dann hört man dort, dass es in Berlin Notunterkünfte gibt und die Leute spendenbereit sind. Was machst du dann wohl?

Oft fragt man sich selbst, wie man richtig mit Obdachlosen umgeht. Ein Beispiel: Ich sitze in der U-Bahn. Draußen ist es eiskalt, ein Obdachloser fragt nach Geld. Er riecht nach Alkohol. Wie verhalte ich mich?

Alle Obdachlosen sind im Regelfall Menschen, die ihren Platz in unserer Mitte hatten. Es könnte meine Mutter sein, die gerade demenzerkrankt durch den Tiergarten irrt. Ich habe mir einen Betrag gesetzt, den ich jeden Tag unter die Leute bringen möchte.

Auch wenn Sie wissen, die Person gibt das für Alkohol oder Drogen aus?

Wenn man zehn alkoholerkrankte Menschen drei Tage lang kalt entziehen lässt, sterben drei an den Folgen des Entzugs. Genau darum sage ich: „Ein Bier kann Leben retten.“

Wie sollte man Obdachlosen begegnen, die so stark riechen, dass viele Fahrgäste die S-Bahn verlassen?

Auf längeren S-Bahn-Fahrten begegnet man verschiedenen Typen. Du hast Menschen, die die moz oder den Straßenfeger verkaufen. Du hast Musiker, die den letzten Scheiß spielen – dann gebe ich ihnen meistens was. Wenn sie richtig gut sind, bekommen sie in der Regel genug Geld. Und dann hast du noch den Murmler. Der riecht und sieht angeschlagen aus. Und der ist im Zweifelsfall auch mir unangenehm für einen Moment. Bei dem kannst du davon ausgehen, dass er abends 20 Cent hat. Und wenn sich Leute fragen, warum der sich nicht wäscht, kann ich nur antworten: Wo denn? Wir haben hier jetzt zwar ein Hygienecenter, aber das wird auch nicht jeden am Stadtrand retten.

19 Jan 2017

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Paul Toetzke

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