taz.de -- Abschiebungen nach Afghanistan: Die Taliban sind kein Hindernis
Der Bundesinnenminister will bei Abschiebungen intensiver mit Afghanistan zusammenarbeiten. Indes greifen die Taliban Kundus an.
Berlin taz Der Zeitpunkt des [1][Talibanangriffs auf die afghanische Provinzhauptstadt Kundus] an diesem Montag ist symbolträchtig: Vor einem Jahr hatten die Islamisten die Stadt schon einmal vorübergehend erobert. Symbolträchtig ist auch, dass Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) jetzt just am Vortag die Unterzeichnung einer „Gemeinsamen Erklärung über die Zusammenarbeit in Fragen der Migration zwischen Deutschland und Afghanistan“ verkündet hat.
Er danke der afghanischen Regierung „für ihre Bereitschaft zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit bei der Rückkehr ausreisepflichtiger Personen“, erklärte de Maizière. Die Bundesrepublik gewähre „denjenigen afghanischen Asylsuchenden Schutz, die schutzberechtigt sind“.
Für Rückführungen gebe es ausreichend „sichere Regionen“, betonte de Maizière mehrfach. Eine „dauerhafte Einnahme von Provinzhauptstädten durch die Taliban“ zeichne sich aufgrund der Präsenz afghanischer Sicherheitskräfte „bisher nicht ab“, sagte das Ministerium noch im April auf eine [2][Kleine Anfrage der Linkspartei] – eine Prognose, die wohl zu optimistisch war.
Pro Asyl zählte im ersten Halbjahr 2016 über 1.600 Tote und mehr als 3.500 verletzte ZivilistInnen. Die Schutzquote für Menschen aus Afghanistan sank trotzdem von 78 Prozent im Jahr 2015 auf gerade mal 48 Prozent im August dieses Jahres. Die Vereinbarung sei der „Höhepunkt einer menschenrechtlich ignoranten Politik“, sagte Luise Amtsberg, flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen.
Kein Transport in „sichere Regionen“
Dass de Maizière die erneuten Angriffe auf Kundus nicht zum Anlass nehme, seine Politik zu überdenken, sei „schlimm und das Gegenteil einer besonnenen Außenpolitik“, sagte Amtsberg. Seit Jahren verweigere die Bundesregierung den afghanischen Flüchtlingen die Integration. „Alles an dieser Politik ist falsch“.
In der Woche zuvor hatte das Bundesinnenministerium auf eine Anfrage Amtsbergs geantwortet, sich für den Transport von Menschen in die als „sicher“ eingestuften Regionen nicht verantwortlich zu fühlen. „Sofern der Ankunftsort der zurückgeführten afghanischen Staatsangehörigen in Afghanistan nicht zugleich der Zielort der Rückführung ist, liegt der weitere inländische Transfer in der Verantwortung der zuständigen afghanischen Behörden“, hieß es in der Antwort.
Für die Betroffenen bedeute das „Abschiebungen in lebensgefährliche Zustände“, hatte Amtsberg schon zu diesem Zeitpunkt kritisiert. Besonders perfide sei es, „die Verantwortung für das Wohl der zwangsweise Rückgeführten ab dem Flughafen Kabul bei der afghanischen Regierung“ abzuladen.
„Reine Papierkonstruktion“
Diese sei nicht in der Lage, sichere Transporte über Land zu gewährleisten, kritisierte auch Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer von Pro Asyl. In den wenigen ruhigeren Regionen sei die Polizei damit ausgelastet, die Sicherheit halbwegs zu stabilisieren. „Individueller Schutz ist da nicht leistbar. Das ist eine reine Papierkonstruktion“, sagte Mesovic. „Aber für die deutsche Seite zählt: aus den Augen, aus dem Sinn“.
Selbst in vermeintlich „sicheren Zonen“ könne es jederzeit zu Kampfhandlungen kommen, sagte Amtsberg. Der erneute Angriff auf Kundus gibt ihr recht.
3 Oct 2016
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