taz.de -- Kolumne Lügenleser: Je suis aktuelle Tragödie
Früher sei das nicht so gewesen, liest man derzeit oft. Wann aber war dieses „früher“? Und was soll dieser Vergleich?
Alles hat mit allem zu tun. So viel wissen die selbsternannten Internet-Experten inzwischen. Nizza ist passiert um von TTIP abzulenken. In deutschen Schwimmbädern wütet der „Sex-Mob“, weil Merkel eine US-Agentin ist. Die Isis ist eine Erfindung des Mossad. Erdoğan ist Hitler, nur als Ausländer. Jackpot. Was will man mehr.
Laut den allwissenden Kommentatoren und Politik-Experten aus der „Je suis aktuelle Tragödie“-Profilbildwelt, dreht sich die Gewaltspirale immer schneller und steuert auf einen großen, letzten Knall zu.
Die Zeichen mehren sich. Erwachet! Dass diese Welt ganz schön abgefuckt ist, wird sicherlich niemand bestreiten, wie könnte man auch. Warum in der Phantasie dieser Menschen wahlweise die AfD, Putin oder ein ominöses Volksgericht als großer Sieger daraus hervorgehen sollte, ist ebenso rätselhaft wie die Motivation die sich hinter ihrem Handeln verbirgt.
Vor wenigen Wochen hätten coole Kids noch gesagt: Was ist das für 1 Life? Wer zum Teufel verbringt denn seinen Tag damit, unter schrecklichen Meldungen, noch schrecklichere Kommentare abzugeben?
PokemonGo, Pegida-Edition
Das muss doch unglaublich frustrierend sein. Die Lebensrealität der entsprechenden User ist offenbar frustrierender, deshalb lohnt sich die Flucht ins Digitale. PokemonGo, Pegida-Edition.
Die „Lügenleser“ sind überall. Dabei spielt es meist eine untergeordnete Rolle ob es sich um ein Massaker, allgemeine politische Vorgänge oder eine Schlägerei unter Jugendlichen handelt. Hauptsache man kann negative Assoziationen produzieren.
„Früher war das nicht so“ liest man dann oft. Da hat man beispielsweise aufgehört „wenn jemand am Boden lag“ oder „da gab es noch Regeln“ an die man sich gehalten hat. Wann dieses früher gewesen soll, keiner weiß es genau.
Eventuell sind die 90er gemeint, als schon einmal unzählige Wohnheime brannten und Morde durch Neonazis Gewohnheit wurden. Oder die frühen 60er, wo die Jalousien noch herunter gelassen wurden bevor die eigene Frau verprügelt wurde.
Vielleicht auch die direkten Nachkriegsjahre, in denen mein Großvater etwa, mit einem Messer um ein Stück Brot kämpfen musste. Oder der zweite Weltkrieg. Wahrscheinlich aber das durch seinen Humanismus berühmt gewordene Mittelalter. Hach, war das schön damals.
Verfall der Sprache
All diejenigen die sich insgeheim oder ganz offen nach jeder Schreckensnachricht freuen, weil es ihren Pessimismus, ihren Hass und ihre Katastrophensehnsucht bekräftigt, stehen bei jeder Meldung in der ersten Reihe und befeuern die Suche nach den angeblich Schuldigen.
Dabei wollen sie offenbar gar nicht merken, dass sie ein Teil des Problems sind. Ein chemischer Katalysator, der die Hin- und Rückreaktion gleichermaßen beschleunigt. Das der Verfall der Sprache ein erstes Indiz für kommendes Unheil ist, dürfte man aus der Geschichte gelernt haben.
Dabei ist es so einfach. Brutalität besitzt kein Verfallsdatum, Gewalt kennt keine Regeln, Ungerechtigkeit hat kein festes Herrchen. Was sich verändert hat, ist die Art und Weise in der wir miteinander kommunizieren. Es wird Zeit für eine erneute Veränderung.
19 Jul 2016
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