taz.de -- Atomkraftwerke in der Ukraine: Angst vor einem neuen Tschernobyl

Die Ukraine will ihre AKWs künftig aus wirtschaftlichen Gründen kurzfristig hoch- und runterfahren. Das halten sogar die Betreiber für gefährlich.
Bild: Hier gibt es keine Reaktorleistung mehr zu regeln: Arbeiter in Tschernobyl

Kiew taz | Wenige Wochen vor dem 30. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl entzündet sich in der Ukraine ein Streit um die Pläne von Energieminister Wladimir Demtschischin, die ukrainischen Atomkraftwerke bis zum Jahresende kurzfristig regelbar zu machen. Mit dieser „Manövrierfähigkeit“, wie Dementschischin seine Pläne nennt, soll die Stromproduktion der Atomkraftwerke der aktuellen Stromnachfrage angepasst werden.

Schon jetzt regeln die ukrainischen AKWs mehrmals in der Woche die Stromproduktion nach unten oder nach oben. Künftig soll die Stromproduktion jedoch mehrmals täglich um bis zu 25 Prozent herauf- oder heruntergeregelt werden.

Wirtschaftlich macht das Sinn: Man würde der insgesamt angesichts der Wirtschaftskrise niedrigeren Nachfrage gerecht und könnte gleichzeitig in das lukrative Geschäft um den Strom in Spitzenzeiten einsteigen. Dieser Spitzenlaststrom wird derzeit vor allem mit Kohlekraftwerken bedient und mit Stromeinkäufen aus Russland.

Kritik am Vorhaben von Minister Demtschischin kommt nicht nur von Umweltschützern. Auch die Atomwirtschaft lehnt seine Pläne ab. Es sei nicht zu schaffen, die Kraftwerke bis Jahresende auf diese neue Aufgabe vorzubereiten, äußerte sich Juri Nedaschkowski, Chef des ukrainischen Staatsunternehmens „Energoatom“, das die ukrainischen Atomkraftwerke betreibt. Die technischen Arbeiten und die erforderlichen Genehmigungsverfahren würden zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen.

„Technisch dazu nicht in der Lage“

Auch die Gewerkschaft der in der Atomwirtschaft Beschäftigten, „Atomprofspilka“, spricht sich gegen das Vorhaben aus. Die Pläne zur schnellen Regelbarkeit, heißt es in einem Schreiben der Gewerkschaft an die Regierung, könnten zu einer Katastrophe führen. Die Reaktoren, die zu Sowjetzeiten gebaut wurden, seien „technisch nicht in der Lage, ständig und täglich ihre Produktionsmengen zu ändern“. Das Schreiben endet mit dem Appell: „Denken Sie an das Experiment, das vor 30 Jahren in Tschernobyl durchgeführt wurde.“

Die Angst vor einem neuen Tschernobyl bei Gewerkschaftern und Umweltschützern kommt nicht von ungefähr. Bei einer Leistungsdrosselung eines Atomkraftwerkes kann es im Reaktor zu einer erhöhten Konzentration des Neutronengiftes Xenon-135 kommen. Dies wiederum kann ein vollständiges Herunterfahren des Reaktors erforderlich machen, um so eine Beschädigung der Brennstäbe zu verhindern.

Auch bei der Katastrophe von Tschernobyl hatte Xenon-135 eine fatale Rolle gespielt. Als die Betriebsmannschaft am 26. April 1986 den Reaktor dort durch das Ausfahren der Steuerstäbe wieder hatte hochfahren wollen, war ihr dies wegen der hohen Xenonkonzentration nicht mehr gelungen.

Wie der Konflikt ausgeht, ist offen. Doch selbst wenn die Kritiker der neuen Pläne sich zunächst durchsetzen sollten, ist nicht ausgeschlossen, dass die schnelle Regelbarkeit später doch noch kommt, erklärte ein Ingenieur aus dem Atomkraftwerk Saporoschje der taz. Schließlich habe man schon ein Jahr lang im AKW Chmelnizkij die „Manövrierfähigkeit“ getestet – und die Ergebnisse seien „sehr überzeugend“ gewesen.

Zudem geht es um viel Geld: Nach der Fertigstellung eines neuen Transformatorenwerkes könnte der Strom aus ukrainischen AKWs auch nach Westeuropa verkauft werden.

29 Mar 2016

AUTOREN

Bernhard Clasen

TAGS

AKW
Atomkraftwerk
Tschernobyl
Umweltschutz
Ukraine
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Atomkraft
Swetlana Alexijewitsch
Tschernobyl
Tschernobyl
AKW
Schwerpunkt Atomkraft
Atomkraftwerk
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Atomkraft
AKW Fessenheim

ARTIKEL ZUM THEMA

Reformkurs in der Ukraine: Zentralbankchefin tritt zurück

Die ukrainische Zentralbankchefin Walerija Gontarewa hat ihren Rücktritt eingereicht. International wurde ihr Reformkurs gelobt, im Land war er umstritten.

Pannenserie in größtem Atomkraftwerk: Europas Riese hat Risse

Wegen einer undichten Stelle im Gassystem muss im ukrainischen AKW Saporoschje der vierte Reaktor vom Netz. Die Zwischenfälle häufen sich.

Ukrainische Staatsfirma: Atomkonzern mit Geldschwierigkeiten

Weil Energoatom kein Geld mehr hat, könnten Brennelemente knapp werden. Der Konflikt mit Russland wird schärfer.

30 Jahre Tschernobyl: Leben in der Zone

Dort, wo nach der Katastrophe evakuiert wurde, leben heute Wölfe, Pferde, Elche und Biber. Es gibt sogar Pläne für ein Biosphärenreservat.

30 Jahre Tschernobyl: Eine Aufgabe für Generationen

Die Region um Tschernobyl ist Sperrgebiet. Doch auf dem Gelände des ehemaligen AKW arbeiten 3.000 Menschen an der Zukunft.

Alexijewitsch und Harms zu Tschernobyl: „Das Böse ist total geworden“

Die weißrussische Nobelpreisträgerin und die Vorsitzende der EU-Grünen reden über den GAU, Merkel und den Umgang mit der Flüchtlingssituation.

Insektenforscherin über Tschernobyl: „So was hatte ich noch nie gesehen“

Cornelia Hesse-Honegger zeichnete nach Tschernobyl mutierte Insekten. Von Wissenschaftlern wurde sie dafür zunächst belächelt. Heute geben ihr viele recht.

Strahlenforschung nach dem Atomgau: „Vergiftete Wissenschaft“

Die Zusammenarbeit ukrainischer und russischer Strahlenforscher ist gestört. Auch die archivierten Daten sind nicht mehr für alle verfügbar.

Sicherheit in AKWs: Gefälschte Protokolle auch in Biblis

Prüfungen, die nie stattgefunden haben – das gab es nicht nur im AKW Philippsburg. Nun gerät auch der Einsatz von Fremdfirmen in die Kritik.

Alternde AKWs in Europa: Weniger Atomstrom, mehr Pannen

In Europa sinkt die Produktion von Reaktoren auf den niedrigsten Stand seit 1994. Das Alter der AKWs führt zu immer mehr Pannen, das Risiko steigt.

Atomexperte über Terroranschläge: „AKW-Sabotage ist nicht schwer“

Mycle Schneider hält einen atomaren Terroranschlag für absolut denkbar. Er warnt vor Sicherheitsmängeln, vor allem bei der Lagerung von Brennelementen.

Sicherheitsrisiko Atomanlagen: Angst vor der radioaktiven IS-Bombe

Belgische Nuklearanlagen könnten im Visier radikaler Islamisten sein. Ziel: Anschlag, Sabotage, Beschaffung von Material für einen Sprengsatz.

Zwischenlager: Problem bis ins 22. Jahrhundert: Die Risiken des Auslaufmodells Atomkraft

Terroranschläge, Unfälle, Hochwasser – der Umweltverband BUND veröffentlicht ein Gutachten über die Gefahr, die von den Atomkraftwerken ausgeht.

Fünf Jahre nach der Dreifachkatastrophe: Leben hinter Tsunami-Schutzmauern

Ein halbes Jahrzehnt nach den Erdbeben, der Flutwelle und dem GAU macht der Wiederaufbau in Japan Fortschritte. Doch nicht jeder hat was davon.

Kommentar Störfall im AKW Fessenheim: Atomknast Europa

Europas Atompolitik grenzt an fahrlässige Tötung. Jeder Staat darf weiter vor sich hinpfuschen. Das ist am Ende eine politische Entscheidung.