taz.de -- Ärzte im syrischen Krieg: „Es könnte mein Sohn sein“

Raketen auf Hospitäler, Schüsse auf Rettungsfahrzeuge, Fassbomben auf Untergrundkliniken: grausiger Alltag für Mediziner in Syrien.
Bild: Syrische Rebellen in Aleppo transportieren einen Verletzen ab (Archivbild).

Berlin taz | Die Sonne sieht Dr. Abdelaziz* nur alle zwei Wochen. Der syrische Chirurg führt ein Doppelleben – eines in Syrien unter der Erde und eines in der ziemlich sonnigen Türkei. 15 Tage am Stück operiert er Bombenopfer in Aleppo, die anderen 15 Tage verbringt er im türkischen Gaziantep, um medizinischen Nachschub zu organisieren und bei seiner Familie zu sein.

Dr. Abdelaziz´ Untergrundklinik M1 liegt im Osten der Stadt – jenem Teil von Aleppo, der seit drei Jahren von der Opposition kontrolliert und deshalb immer wieder von Regierungstruppen bombardiert wird. In dem Kellerraum stehen einfache Plastikpritschen dicht an dicht, vor den schmalen Fenstern liegen Sandsäcke.

Nach einem Raketenangriff würden innerhalb von Minuten Dutzende blutüberströmte Verletzte vor ihm abgeladen, erzählt Dr. Abdelaziz. Dann muss der schmale Mann mit dem kurzen grauen Vollbart schnell entscheiden, wen er rettet und wen nicht.

Einen Patienten mit 10 Prozent Überlebenschance könne er nicht behandeln, weil er in der Zeit zu viele andere Verletzte verlieren würde, sagt der Chirurg. „Ich fahre ihn vor den Augen der Familie in den OP-Raum, schließe die Tür und lasse ihn sterben.“

Der Chirurg machte weiter

Früher hatten Aleppos Krankenhäuser wohlklingende Namen wie Dar al-Schifa, Wisam und al-Sakhour. Sie waren groß und gut ausgestattet, insgesamt 1.500 Ärzte arbeiteten dort. Doch dann begann das Assad-Regime im Jahr 2012, gezielt die medizinische Infrastruktur anzugreifen.

Die Organisation Physicians For Human Rights dokumentiert diese Strategie: 329 Bombenangriffe auf Gesundheitseinrichtungen hat sie bis jetzt gezählt, 687 Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger und Rettungssanitäter wurden in Syrien seit 2011 getötet. Die Berichte der NGO lesen sich wie das Drehbuch zu einem Anti-Ärzte-Kriegsfilm.

Zwischen August und November 2012 wurde das Dar-al Schifa-Krankenhaus vier Mal getroffen und schließlich zerstört. Eine mit Chlorgas gefüllte Fassbombe schlug im April 2014 in der Nähe des Wisam-Krankenhauses ein, zwei Monate später trafen Fassbomben das Gebäude und zerstörten es komplett – zwei Babys und eine Krankenschwester starben. Ende April 2015 musste auch das Al-Sakhour-Krankenhaus schließen, eines der größten der Stadt, nachdem es zweimal innerhalb von einer Woche angegriffen worden war.

Um die Kliniken besser zu schützen, bekamen sie statt Namen anonyme Nummern von M1 bis M10. Doch auch das half nicht. M10, eines der großen chirurgischen Krankenhäuser Aleppos, wurde bislang sechs Mal bombardiert.

Dr. Abdelaziz hat insofern Glück gehabt. Sein M1 wurde erst einmal, im Mai 2014, von einer Fassbombe getroffen. Alle überlebten, nur die Einrichtung war kaputt. Der Chirurg organisierte neue Geräte, kehrte die Scherben zusammen und machte weiter. Der Nachschub funktioniert, solange die Versorgungsroute in die Türkei sicher ist. Immer wieder versuchen das Regime und auch der IS, die von Rebellen gehaltene Straße unter ihre Kontrolle zu bringen – für den Ostteil Aleppos wäre das eine Katastrophe.

Den bisher besten Krankenwagen hätten sie aus Deutschland geschickt bekommen, sagt Dr. Abdelaziz. Zweimal sei der Wagen bei Luftangriffen beschädigt, das dritte Mal von einem Scharfschützen zerschossen worden, erzählt er. Warum? Einen Kranken zu transportieren, sagt Dr. Abdelaziz bitter, sei für das Assad-Regime „ein Verbrechen“.

Von 1.500 Ärzten blieben 75

Die meisten seiner Kollegen sind deshalb geflohen, einige wurden verhaftet oder getötet. Von den ursprünglich 1.500 Ärzten sind 75 geblieben. Da viele wie Dr. Abdelaziz in Wechselschichten arbeiten, stehen den 300.000 Bewohnern von Ost-Aleppo immer nur etwa 40 Ärzte zur Verfügung.

In den östlichen Vororten von Damaskus sind es ein paar Mediziner mehr, denn von dort kann man nicht flüchten. Ost-Ghouta wurde nach den Giftgasangriffen im August 2013 abgeriegelt, rund eine Million Menschen werden seitdem systematisch ausgehungert, täglich bombardiert. Auch dort treffen Raketen und Fassbomben regelmäßig Marktplätze, Krankenhäuser und Schulen. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) unterstützt in der Region mehrere Untergrundkliniken, ihren Berichten zufolge sind 40 Prozent der Opfer in Ost-Ghouta Frauen und Kinder unter 15 Jahren. „Die massive Bombardierung von überfüllten Märkten und die wiederholte Zerstörung der wenigen medizinischen Einrichtungen brechen alle Regeln des Krieges”, sagt MSF-Einsatzleiter Brice de le Vingne. Zwei provisorische Krankenhäuser würden bereits zum vierten Mal in diesem Jahr mit ihrer Unterstützung wiederaufgebaut, erklärte die Organisation.

De le Vingne fordert den Weltsicherheitsrat auf, die eskalierenden Luftangriffe in Syrien so schnell wie möglich zu beenden. Die UNO hätte mit Resolution 2165 im Juli 2014 ein Schutzmandat übernommen und müsste dieses endlich umsetzen, so MSF. Doch solange niemand bereit ist, sich für den Schutz von Zivilisten militärisch zu engagieren, bleiben UN-Resolutionen zu Syrien wirkungslos. Auch der Westen inklusive Deutschland schickt Flugzeuge nur für den Kampf gegen den IS, obwohl zivilgesellschaftliche Gruppen seit Langem Flug- oder Bombenverbotszonen fordern.

Bis auf Weiteres müssen Syriens Ärzte sich deshalb selber helfen. Als größte nichtstaatliche Hilfsorganisation in Syrien baute die Union Syrischer Medizinischer Hilfsorganisationen (UOSSM) bereits ein Krankenhaus in einer Höhle. Vor wenigen Wochen traf jedoch eine Rakete den mehrfach gesicherten Eingang, durch die Druckwelle starb eine Krankenschwester.

In Aleppo wollte die Organisation ein Krankenhaus direkt an der Frontlinie errichten – ein relativ sicherer Ort, weil das Regime dort keine Fassbomben abwirft, aus Angst, sie könnten die eigenen Leute treffen. Aber die Rebellen einer nahe gelegenen Unterkunft der Freien Syrischen Armee (FSA) protestierten. Eine Klinik in ihrer Nachbarschaft sei viel zu gefährlich, weil sie dann angegriffen würden, erinnert sich Generalsekretär Zaidoun al-Zoabi an die Reaktion der Kämpfer. „Stell dir vor: In Syrien haben die Militärs Angst vor den Medizinern, weil sie wissen, dass Ärzte mehr angegriffen werden als alles andere“, so der UOSSM-Vertreter.

Besonders tödlich sind Doppelschläge. Ein Kampfjet wirft eine Bombe ab, und während Rettungskräfte zum Ort des Einschlags eilen, um Verletzte zu bergen, kehrt das Flugzeug zurück und greift dieselbe Stelle ein zweites Mal an.

Ins Herz getroffen

Al-Zoabi kennt die Folgen dieser Taktik. Erst kürzlich besuchte er ein Krankenhaus im Umland von Aleppo, das zweimal innerhalb von 10 Minuten bombardiert worden war. Die erste Rakete sei 15 Meter neben dem Gebäude eingeschlagen, erklärt er. Sie habe offensichtlich dazu gedient, das Ziel genauer anzuvisieren. Die zweite Rakete habe dann wenig später das Herz des Krankenhauses getroffen, berichtet der Generalsekretär.

Mit den gezielten Angriffen auf medizinische Einrichtungen verfolge das Regime eine Strategie der verbrannten Erde, meint sein Kollege Dr. Munzer*, der Direktor für Gesundheit in der nördlichen Provinz Idlib. Wo Assad nicht mehr regiert, solle nichts funktionieren: keine Gesundheitsversorgung, keine Schulen, keine Verwaltung. Damit Assad als einzige Ordnung erscheine, zu der es neben dem IS keine Alternative gebe, erklärt der Arzt. Wann immer seine Behörde eine Impfkampagne an einem bestimmten Ort ankündige, werde genau dieses Gebiet bombardiert, sagt Dr. Munzer.

Die Folgen sind verheerend. In Teilen Syriens ist die medizinische Grundversorgung bereits zusammengebrochen. Chronisch Kranke wie Dialysepatienten, Diabetiker, Herz- und Kreislaufpatienten haben dort kaum Zugang zu den für sie lebenswichtigen Therapien. Seuchen kehren zurück – Tuberkulose, Hepatitis, Polio, Cholera. Auch das treibe Menschen in die Flucht, meint Zaidoun al-Zoabi.

„Wir wissen wirklich zu schätzen, was Deutschland für uns tut“, sagt der UOSSM-Generalsekretär. Aber es wäre besser, den Syrern in ihrer Heimat zu helfen. „Wir wollen Schutz“, fordert er und klingt dabei ziemlich verzweifelt.

Sein Kollege Dr. Abdelaziz aus der Klinik M1, der für UOSSM die medizinische Versorgung Aleppos koordiniert, hat kaum noch Hoffnung auf Bombenverbotszonen. Er fühlt sich vom Westen im Stich gelassen – als Syrer und erst recht als Arzt. Neulich sei seine Frau in Gaziantep einer Mutter aus Aleppo begegnet, die erzählte, dass ein Arzt namens Abdelaziz in der Klinik M1 ihrem Sohn die Beine gerettet habe.

„Dieser Junge könnte mein Sohn sein“, sagt der Chirurg. Er wäre gestorben, wenn es keinen Arzt gegeben hätte, der ihn behandelt, betont Dr. Abdelaziz. Er tue nur seine Pflicht.

27 Dec 2015

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Kristin Helberg

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