taz.de -- Protokoll aus der Psychiatrie: Sieben Tage weg

Wenn im Kopf nur noch Finsternis und Chaos herrschen, ist es an der Zeit, etwas zu tun. Eine Woche in der Klinik – ein Protokoll.
Bild: „Wie viel von dieser Krankheit ist Kranksein, das vorbeigeht, und wie viel bin ich selbst?“

Erster Tag. Ist es richtig, mich selbst einzuliefern? Hätte ich mich bloß nicht krankgemeldet. Arbeiten geht doch irgendwie immer. Stattdessen betrete ich ein Krankenhaus. Man nimmt mir Blut ab, mir wird flau im Magen.

Ständig kamen mir die Tränen, ohne erkennbaren Grund, auf dem Fahrrad, im Supermarkt, in der U-Bahn. Ich konnte nichts dagegen tun. „Eine schwere Depression ist nicht therapierbar. Ich kann Ihnen nicht helfen. Wir brauchen einen Anknüpfungspunkt“, hatte der Therapeut gesagt. Darum bin hier.

Ein Pfleger führt mich hinauf. Zweiter Stock, Station 23, Zimmer 116. Meine Zimmernachbarin spricht nicht. Ich frage sie, seit wann sie hier ist. Sie hebt Daumen und Zeigefinger. „Zwei Tage?“ Kopfschütteln. „Zwei Wochen?“ Kopfschütteln. „Zwei Monate?“ Sie nickt. „Und wissen Sie, wie lange Sie noch bleiben müssen?“ Sie schüttelt den Kopf und dreht sich weg. Durch das offene Fenster weht ein angenehm kühler Luftzug.

Wie viel von dieser Krankheit ist Kranksein, das vorbeigeht, und wie viel bin ich selbst? Welche Gedanken sind von mir, welche von der Krankheit? Welche Launen sind „normal“, über welche sollte ich mir Sorgen machen? Und wenn ich mir Sorgen mache, sind diese in Ordnung oder bereits Teil der Krankheit?

Auf dem Gang vor dem Zimmer geht ein junger Mann auf und ab. Das hat er schon getan, als ich ankam, vor drei Stunden. Ich habe das Gefühl, er kommt jetzt häufiger an meiner Tür vorbei und dreht schnell wieder um. Dann geht ganz langsam an der offenen Tür vorbei, schaut rein und mich direkt an. Als ich kam, hatte er schon so einen stierenden Blick. Der ist doch echt irre.

Visite. Zwei Ärztinnen, zwei Schwestern, ein Sozialarbeiter. Wenige Fragen, später soll es ein längeres Gespräch geben.

Ich will weg. Ich bin doch nur ein bisschen traurig, nicht irre wie die anderen hier. Aber zu Hause habe ich tagelang nichts getan, als im Internet mit bunten Bällen auf andere Bälle zu schießen. Bei jedem Treffer ein „Pling“. Immer wieder, noch einmal, nur ein Spiel.

Die Oberschwester zeigt mir die Station: gebastelte Fensterbilder, eine Tischtennisplatte, orange-braune Vorhänge im Speisesaal. Ich gehe ins Freie, rauchen. Und meine Schwester anrufen. Ich fange sofort an zu weinen, sage, dass es hier schrecklich ist. „Du kannst ja eine Nacht bleiben und abwarten, was die Ärzte sagen“, meint sie. Ich höre die Sorgen in ihrer Stimme, und es tut mir leid, dass ich ihr und allen so viel Kummer bereite.

So viele Gesichter, Worte, Situationen und Gefühle tauchen in meinem Kopf auf, verschwinden, kommen zurück und vermischen sich zu einem Brei.

Gespräch mit der Assistenzärztin. „Das sieht nach einer waschechten Depression aus.“ Ach nee. Sie hat hübsche blonde Locken, ein glattes Gesicht und Silberschmuck. Wäre sie meine Kindergärtnerin gewesen, hätte ich sie geliebt, aber so? Seit ein paar Wochen nehme ich Fluoxetin, aber die Kindergärtnerin sagt, ich soll etwas nehmen, das müde macht, nicht aufputscht. Mirtazapin heißt das neue Mittel. Psychotherapie gibt’s hier nicht. Nur einschläfern also.

Ist es das, was ich will?

Ich soll morgen in die Werkstattgruppe, arbeiten, um das Gehirn abzulenken. Dort werden tatsächlich Körbe geflochten, mir kommen die Tränen.

Ich will nach Hause. Aber nicht nach Hause.

Zweiter Tag. Ich bin in einem neuen Zimmer. Mit Julia. Sie ist 24 und hat eine Psychose. Hypochonder. Ich war in der Werkstattgruppe und habe zu stricken angefangen. Es lenkt ab. Aber es ist auch erniedrigend. Und es gab keine schöne Wolle. Ich habe Altrosa genommen, das passt zum Klinikgefühl, finde ich.

Ich hatte Zeit. Zu viel Zeit. Wir sind doch immer gehetzt. Nie ist Zeit. Ich hatte zu viel. Zu viel von mir. Ich fühlte mich bedrängt und einsam zugleich.

Den Tag über war ich zuversichtlich, habe am Entspannungstraining teilgenommen und Lea kennengelernt. Sie ist 36, Lehrerin und hat auch eine Depression. „Ich sage lieber, ich bin todtraurig“, sagt sie.

Abendstunde im Speisesaal. Alle müssen sagen, wie’s ihnen geht. Eine ist sehr aggressiv, sagt mehrmals, dass sie übermorgen abgeholt wird und nicht mehr hier sein will. Vermutlich bleibt sie für immer. Eine andere wippt unentwegt mit dem Oberkörper. Ich sage nur, dass ich gut schlafen kann und in der Werkstattgruppe war. Wie soll mir das hier helfen? Wie kann eine Depression überhaupt geheilt werden? Ausreden kann man sie sich nicht.

Dritter Tag. Frühsport. Dehnen, strecken, Muskeltraining. Es tut gut. Ich soll jetzt doch auf die Kriseninterventionsstation. Hier, stationär, sei die Gefahr, dass man zu sehr herausgerissen wird und zu Hause doch wieder die gleichen Probleme meistern muss, sagt die Kindergärtnerin. Und auf der „Krise“, wie sie hier sagen, finden psychotherapeutische Gespräche statt. Die Frage ist, ob ich dafür stabil genug bin.

Ich denke an die Menschen, die sich in den vergangenen Wochen abgewandt haben. Sie waren überfordert. Das hat mich wütend gemacht und mich in meiner Misere bestätigt: Wenn es darauf ankommt, ist keiner da. Verdammt, ich bin krank! Aber ich war selbst überfordert. Und, das wird mir immer klarer: Ich scheine eine große Wirkung auf Menschen zu haben. Geht es mir schlecht, geht es ihnen schlecht. Mein Sog nach unten zieht mit. Und umgekehrt: Will ich feiern, feiern sie mit. Ich habe meine Außenwirkung wohl unterschätzt. Dabei habe ich ja auch eine große Wirkung auf mich.

Julia liest ein Fachbuch über Psychosen und macht sich Notizen.

Muss ich mich mehr informieren? Ich weiß nichts über Depressionen, nur das kleine Buch aus der Beck’schen Reihe habe ich gelesen. Aber hilft es, wenn man genauer weiß, was falsch läuft? Oder gibt einem das nur noch mehr Stoff zum Grübeln?

Vierter Tag. Umzug in die „Krise“. Ein schöner Altbau, es sieht weniger nach Krankenhaus aus. Morgens und abends Gruppenrunde, dazu ein Einzelgespräch mit einer Therapeutin. Dazwischen darf ich rausgehen, muss aber eine Ausgehkarte unterzeichnen lassen.

„Sie sprechen das Thema Trennung nicht an“, sagt die Therapeutin. Die Trennung habe doch meinen Zusammenbruch ausgelöst. Ja, nein, keine Ahnung.

Ich habe ihn eh nicht geliebt. Und doch hat es mich umgehauen. Aber es hätte auch etwas anderes sein können. Ich will nicht mehr an ihn denken, weil es nicht um ihn geht. Aber worum geht es?

Dann fragt die Therapeutin, was meine Familie denkt. „Sie nehmen Depression als einen Stoffwechselfehler im Gehirn“, sage ich. Und dass mich das wütend macht, obwohl ich es ihnen selber so erklärt habe.

Es ist ja auch schwierig zu erklären, dass da nur noch schlechte Gedanken sind, ich mich über nichts freue, immer die gleichen Fragen in meinem Kopf wälze und mir zugleich alles egal ist. Wie erkläre ich das, ohne zu sagen, dass ich permanent schlechte Laune habe? „Schlechte Laune gibt es nicht“, sagte mein Therapeut. Was ist es dann?

Die Therapeutin gibt mir eine Denkaufgabe: „Was würden Sie an sich ändern und in Beziehungen anders machen wollen?“

Pah. Genau das ballert mir doch dauernd durch den Kopf. Ständig mache ich Listen von Dingen, die ich ändern will, ohne davon etwas hinzukriegen: genießen können, Kritik nicht zu nah heranlassen, mich selbst nicht zu sehr zu kritisieren, weniger kämpfen, weniger Erwartungen haben, nicht so hart sein …

Fünfter Tag. Am Vormittag fahre ich in meine Wohnung. Es ist alles aufgeräumt, ich hatte meine Einlieferung ja geplant und mich ein paar Tage zuvor im Krankenhaus erkundigt, wie das geht.

Mir fällt auf, dass ich mir weniger Notizen mache als in den ersten Tagen, weiß aber nicht, ob das ein gutes Zeichen ist.

Am Nachmittag wieder die Therapeutin. Sie fragt: Bekommen Sie keine Nähe und Zuneigung oder können Sie keine annehmen?

Nähe zulassen, das ist doch Küchenpsychologie. Es darf nicht so banal sein, was mir widerfährt!

Zum Glück kann ich schlafen.

Sechster Tag. Eine neue Patientin kommt in die Krise. Sie ist mir unsympathisch. In der Gruppenrunde am Abend finde ich Widersprüche in ihrer Erzählung und halte sie ihr vor. Eine Krankenschwester greift ein: „Hier darf jeder erzählen, wir versuchen, nicht zu urteilen.“ Na gut.

Die Therapeutin fragt mich: „Warum bekommen Sie nie das Richtige, warum werden Ihre Erwartungen ständig enttäuscht?“ Weil die Erwartungen zu hoch sind, weil es die falschen sind, weil sie nur vorgeschoben sind und ich etwas anderes möchte, weil es das Richtige gar nicht gibt, weil niemand erfüllen kann, was ich erwarte, antworte ich.

Nur Lösungen habe ich keine.

„Gehen Sie immer so rational mit Ihren Gefühlen um?“ Ja.

Ist das ein Problem?

Später treffe ich einen Freund zum Tischtennisspielen. Ich gebe mich abgeklärt: Ich habe mich gekümmert und mich selbst eingeliefert. Ich bin halt krank, musste was tun. Nun wirken die Medikamente, und ich kann mich dem Problem widmen. Vielleicht ist es nur ein Stoffwechselfehler im Gehirn, der wieder verheilt. Wer weiß das schon?

Siebter Tag. Ich gehe nach Hause.

9 Jan 2013

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Ridder

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