taz.de -- Nachrichten von 1914 – 6. Juli: Rennen zu Grunewald

Skurrile Szenen spielten sich beim Pferderennen im Berliner Grunewald ab. Wegen eines Frühstarts ging der letzte Starter als Sieger über die Ziellinie.
Bild: Feine Damen auf der Pferderennbahn Grunewald kurz vor dem Ersten Weltkrieg.

Man muss mit dem Erzählen von hinten anfangen, denn so etwas wie sich gestern im letzten Rennen, dem Preis von Charlottental, ereignete, ist noch nie dagewesen, wenigstens nicht auf einer der großen Berliner Bahnen. Man denke, sechs Rennen sind vorüber, sechs Favoriten sind geschlagen, und alles stürzt sich, in der Hoffnung, den Schaden einigermaßen wieder gut zu machen, auf den siebenten, auf Waldteufel, denn der Braditzer konnte das Rennen nach menschlicher Berechnung kaum verlieren; höchstens dass Mormone ihm ein bisschen gefährlich würde.

Aber alles klappt, klappt sogar schön. Man sieht das Feld mit Centaur, Sauerfüß und Waldteufel in Front losgehen, wird aber doch stutzig, als man bemerkt, dass Mormone nach einigen hundert Metern von seinem Reiter ausgepullt wird. Entweder ist Mormone lahm geworden oder Davies hat den Verstand verloren, denkt man, während inzwischen Waldteufel leicht gegen den Sauerfüß gewinnt. Aber beides ist nicht der Fall. Ganz munter trabt Mormone dahin, und es stellt sich heraus, dass sein Jockei sogar der einzige Vernünftige im Felde gewesen ist.

Der Starter hatte nämlich das Zeichen zum Ablauf noch gar nicht gegeben, auch die weiße Recallflagge war noch nicht gefallen; die Herren Jockeis hatten selbst gestartet, und das Rennen war gar kein Rennen, sondern, renntechnisch betrachtet, nur ein sogenannter falscher Start und das Resultat null und nichtig. Bis diese Tatsache aber auf dem Platze bekannt wurde, hatten die Verlierer ihre Tickets längst weggeworfen, namentlich deshalb, weil schon die „Siegesquote“, 22:10, aufgezogen war.

Rund 30 000 Mark lagen da in kleinen Totokärtchen, die nun mit einem Male wieder zu Wert und Ansehen kamen, da alle Wetten zurückgezahlt wurden. Alles begab sich schleunigste auf die Suche nach solchen Tickets, die nun mit Gold eingelöst wurden, und man kann sicher sein, dass nach zehn Minuten nicht ein Papierstückchen mehr auf der Erde lag, das nicht aufgehoben und genau geprüft war. Jockei Davies aber begab sich mit Mormone schmunzelnd noch einmal zum Ablauf Posten und ging für den Preis allein über die Bahn, denn von den Besitzern deren Pferde im Rennen „gelaufen“ waren, hatte natürlich keiner Lust, seines ein zweites Mal zu strapazieren. Die schuldigen Jockeis wurden natürlich der technischen Kommission zur Bestrafung angezeigt.

Wie schon bemerkt, hatten bis dahin die Favoriten durch die Bank verlangt, und zwar hatte ihnen in drei Rennen der Stall Lindenstädt den Garaus gemacht, und in zwei weiteren Rennen war dieser Stall, der unsagbares Glück entwickelte, nahe daran gewesen, ein Gleiches zu tun. Die Serie begann mit der zweijährigen Wand, die im Hamilkar-Rennen als Erste absprang und als Erste einkam, wie wenn sie das von jeher gewohnt wäre. Und dabei lief die Stute ihr erstes Rennen.

Dann setzte Animato im Römerhof-Rennen der Siegerin Jewel gewaltig zu. Gerade um einen Kopf konnte sie sich ins Ziel retten. Jewel war – oh bittere Ironie! – tags zuvor auf der Hoppegartener Auktion vergeblich angeboten worden. Der Favorit, der hierbei in der Versenkung verschwand, hieß Royal Blue. Er hat es in dieser Saison nun fünfmal fertiggebracht, als meistgewettetes Pferd zu verlieren. Aber die Wetter sind zähe. Sie lassen ihn nicht fallen. Der Lindenstädtische Marius hatte es darauf auf das wertvolle Adonis-Rennen abgesehen, aber Monolog war noch etwas zu stark für ihn und konnte sich des Angreifers, wie Jewel, um einen Kopf erwehren.

Auch hier täuschen Stall Oppenheim und Archibald das Vertrauen ihrer Anhänger, denn Mephisto versagte völlig. Ähnliche Parallelen ergaben sich aus Verlauf und Resultat des Affenburg-Memorials und des Preises vom Waldhaus, die beide der Stall Lindenstä dt mit Ragufa und Marotte zu langen Odds gewann, gegen den Stall des Trainers Long, der mit Saint Cloud in dem einen, wie mit Oryade in dem anderen Rennen die erste Anwartschaft zu haben schien.

Mitten zwischen diesen spannenden und in den Endkämpfen ungemein reizvollen Rennen lag eine Zweijährigenkonkurrenz, der Preis von Remlin, in dem ein Pferd sich zum ersten Mal vorstellte, das wahrscheinlich besser ist als alles, was an diesem Tage sich hier bekämpfte, Herrn Haniels Bella Luna, eine Binion-Tochter, die ihr Rennen vom Start bis ins Ziel gewann, und von der man noch manchmal sprechen wird.

Quelle: Berliner Tagblatt

6 Jul 2014

TAGS

aera
Alltag
Schwerpunkt Erster Weltkrieg
Berlin
Schwerpunkt Erster Weltkrieg
aera
aera
aera
aera
aera
aera
Sarajevo
aera
aera
Schwerpunkt Erster Weltkrieg
aera

ARTIKEL ZUM THEMA

Nachrichten von 1914 – 14. Juli: Das Anschwellen der Rüstungen

Kein anderes Land hat so viel für Rüstung ausgegeben wie Deutschland. Doch bei den Pro-Kopf-Ausgaben hat noch immer eine andere Großmacht den ersten Platz inne.

Nachrichten von 1914 - 12. Juli: Die Frau mit Bart und Glatze

Frauen drängen immer stärker in männliche Domänen. Das könnte dazu führen, dass wir uns bald an Frauen mit Glatze und Bartwuchs gewöhnen müssen.

Nachrichten von 1914 – 11. Juli: „Spanner“ und „Lauscher“

Liebespaare haben es im Berliner Grunewald mit erpresserischen Spannern zu tun. Die Täter geben sich als Polizisten aus und bringen die Paare um ihr Geld.

Nachrichten von 1914 – 10. Juli: Ostsee-Frühling

Heringsdorf, die Strandkorbstadt auf Usedom: Voll Jugendlust und Übermut, voll Spiel und Flirt, voll Tanz und Gesang, voll Frauenschönheit und Männersehnsucht.

Nachrichten von 1914 – 9. Juli: Österreichisch-serbische Spannungen

Solange die Hintergründe des Attentats nicht aufgeklärt sind, wird Österreich keine Schritte gegen Serbien einleiten. Die Krise könnte sich bald verschärfen.

Nachrichten von 1914 – 7. Juli: Selbstmord wegen Spekulationen

Ein Mehlhändler und seine Frau haben sich wegen Geldproblemen umgebracht. Weil die Geschäfte immer schlechter liefen, spekulierten sie mit Geld.

Nachrichten von 1914 – 5. Juli: Kaiser Franz Josef über die Mordtat

Der Tod seines Neffen und Thronfolgers hat Kaiser Franz Josef schwer getroffen. Doch die Zuneigung der Bevölkerung lindert seinen Schmerz.

Nachrichten von 1914 – 4. Juli: Berliner Asphalt bei 54 Grad

Die Straßenbeläge in Berlin leiden unter der direkten Sonneneinstrahlung. In mancher Wohnstraße werden Pferdehufe und Wagenräder ihre Spuren hinterlassen.

Nachrichten von 1914 – 3. Juli: Deutsche und italienische Küche

Hierzulande tun viele der italienischen Küche unrecht, wenn sie sie mit Zwiebel- und Knoblauchgenuss gleichsetzen. Ein Kochbuch will das ändern.

Nachrichten von 1914 – 2. Juli: Folgen des Sarajewoer Attentats

Österreich-Ungarn ist ein kranker Staat, der nur durch die Autorität eines 84-jährigen Kaisers zusammengehalten wird. Die Krise kann einen Weltkrieg auslösen.

Nachrichten von 1914 – 1. Juli: Sarajewo nach der Bluttat

Nach dem Attentat herrscht in Sarajewo gespannte Ruhe. Dagegen kam es in der Provinz zu anti-serbischen Kundgebungen.