taz.de -- Nachrichten von 1914 – 5. August: Die englische Kriegserklärung
Weil die deutsche Armee in Belgien einmarschiert ist, hat England Deutschland den Krieg erklärt. Doch Belgien dürfte für England nur ein Vorwand gewesen sein.
Halbamtlich wird mitgeteilt: „Heute, Dienstag nachmittag, kurz nach der Rede des Reichskanzlers, in der bereits der durch das Betreten belgischen Gebiets begangene Verstoß gegen das Völkerrecht freimütig anerkannt und der Wille des Deutschen Reiches, die Folgen wieder gut zu machen, erklärt war, erschien der großbritannische Botschafter Sir Edward Goschen im Reichstag, um den Staatssekretär v. Jagow eine Mitteilung seiner Regierung zu machen. In dieser wurde die deutsche Regierung um alsbaldige Antwort auf die Frage ersucht, ob sie die Versicherung abgeben könne, daß keine Verletzung der belgischen Neutralität stattfinden würde.
Der Staatssekretär v. Jagow erwiderte sofort, daß dies nicht möglich sei, und setzte nochmals doe Gründe aneinander, die Deutschland zwingen, sich gegen einen Einfall einer französischen Armee durch Betreten belgischen Bodens zu sichern. Kurz nach 7 Uhr erschien der großbritannische Botschafter im Auswärtigen Amt, um den Krieg zu erklären und seine Pässe zu fordern. Wie wir hören, hat die deutsche Regierung die Rücksicht auf die militärischen Erfordernisse allen anderen Bedenken vorangestellt, obgleich damit gerechnet werden mußte, da´dadurch für die englische Regierung Grund oder Vorwand zur Einmischung gegeben sein würde.“
Schon [1][das - unvollständige - Telegramm] über die Rede Sir Edward Greys, das wir in der Nacht zu gestern erhalten hatten und in unserer gestrigen Morgennummer veröffentlichten, ließ erahnen, daß die englische Regierung zum Anschluß an Rußland und Frankreich zum Kriege gegen Deutschland entschlossen sei. Es war die einzige Meldung über das Ereignis, die hierher gelangt war. Wenn dieses der Zensur entschlüpfte Bruchstück eines Telegramms noch einen Zweifel bestehen ließ, so mußte der ausführliche halbamtliche Bericht, der endlich gestern am Spätnachmittag vorlag, diesen Zweifel zerstreuen.
Um 8 Uhr abends wußte man an den leitenden Stellen und in diplomatischen Kreisen, daß der entglische Botschafter Sie Edward Goschen soeben den Staatsekretär des Auswärtigen Amtes, Herrn v. Jagow, besucht und seine Pässe gefordert habe. Der Botschafter hatte zum ersten Male um halb sechs, unmittelbar nach der Reichstagssitzung, im Auswärtigen Amte vorgesprochen und jene Anfrage mitgeteilt, die das halbamtliche Communiqué erwähnt. Da er seine Instruktionen schon vorher erhalten haben muß, scheint es, daß nur ein loser Zusammenhang zwischen diesem Schritt und der gestrigen Rede des Reichskanzlers besteht.
Liest mal die gestrige Rede des Reichskanzlers v. Bethmann Hollweg und dazu die Rede Greys, so sieht man deutlich, wie die Dinge sich entwickelt haben, und was den entscheidenden Schritte Englands vorangegangen ist. Die englische Regierung hat ihre Neutralität von der Erfüllung ganz bestimmt er Forderungen abhängig gemacht und die deutsche Regierung ist nicht in der Lage gewesen, all diese Forderungen zu erfüllen. Sir Edward Grey hat besonders verlangt, daß die deutsche Armee in ihrem Kampfe gegen Frankreich gegen Frankreich das Gebiet der neutralen Staaten Belgien und Holland respektiere, und die deutsche Regierung, die der holländischen Zusicherungen gegeben hat – und die französische Nordküste zu schonen Versprach – konnte die Respektierung des belgischen Bodens nicht in Aussicht stellen.
Wenn das nun einmal so sein muß, so kann man nur die männliche Offenheit rühmen, mit der von deutscher Seote dabei vorgegangen worden ist, und mit der Herr v. Bethmann Hollweg gestern im Reichstag sich ausgesprochen hat. Ohne ausweichende Phrasen, ohne Beschönigung, ohne sophistische Künstelei hat der Reichskanzler zugegeben: was wir tun, verstößt gegen das Völkerrecht.
Aber wir sind in einer Situation, wo die Paragraphen der Staatsrechtslehrer von selbst zusammenbrechen und der Selbsterhaltungstrieb als höchstes Gut erscheint, und wir werden die territoriale Integrität und die Unabhängigkeit Belgiens nicht antasten und wollen nichts als den Durchmarsch durch belgisches Gebiet. Herr v. Bethmann Hollweg hat hinzugefügt: „Diese Erklärung wiederhole ich hiermit vor aller Welt.“ Wir verzeichnen mit Befriedigung die feierliche Zusage, daß dem militärisch gebotenen Verstoße gegen das Recht keinerlei Erobererabsichten zugrunde liegt.
Das amtliche deutsche Communiqué über die englische Kriegserklärung deutet mit Recht an, daß die belgische Frage nur ein Vorwand für die englische Einmischung war. Wir haben hier seit anderthalb Monaten, infolge besonderer Informationen, immer wieder und trotz allen englischen Dementis gesagt, daß zwischen England und Rußland Verhandlungen über einen russischen Flottenententevorschlag schwebten, und wenn eine solche Entente auch vielleicht noch nicht fest vereinbart war, so wurde sie von Sir Edward Grey, dieser Stockengländer,d er in seinem Leben nicht viel von der Welt draußen gesehen hat, war von dem Besuche, den er mit dem König in Paris abgestattet hatte, ziemlich berauscht nach London zurückgekehrt und seine Neigung für ein Zusammengehen mit Rußland hatte sich – trotz den üblen Erfahrungen, die er in Persien machen mußte – noch vermehrt.
Die Annahme scheint begründet, daß auch dann, wenn Deutschland sich zur vollen Respektierung der belgischen Neutralität verpflichtet hätte, England bei der ersten deutschen Niederlage aus seiner Zurückhaltung herausgetreten und den Gegnern Deutschlands zu Hilfe geeilt wäre. Und weil man das annehmen mußte, hat die deutsche Regierung die englische Forderung, deren Annahme nutzlos die Taktik der deutschen Armee behindert hätte und zur Verlängerung des furchtbaren Krieges beigetragen hätte, nch eingehender Prüfung abgelehnt.
Dieser Krieg wird nun wirklich zum Weltkrieg, und die Tragödie steigert sich zu einer Größe, wie keine andere zuvor. Aber je gewaltiger die Gefahr wird, desto ruhiger müssen wir ihr entgegensehen, desto mehr Selbstsicherheit muß uns erfüllen – und deshalb sind Skandalszenen, wie sie sich gestern vor der englischen Botschaft, bei der Abreise des französischen Botschafters Cambon und anderswo abspielten, doppelt bedauerlich. Wir wollen uns diesen großen Krieg nicht durch die unwürdige Beschimpfung aller Fremden, die in den Tagen des Friedens sich als Gäste bei uns einfanden, beflecken lassen, und wir wollen den Krieg als ein Kulturvolk und in jenem vornehmen Geiste führen, der durch die Thronrede des Kaisers und durch die Rede des Reichskanzlers ging.
Daß England uns jetzt den Krieg erklärt hat, ist gewiß eine ernste und schwere Tatsache, die zu den anderen ernsten und schweren Tatsachen tritt, aber wir mußten darauf gefaßt sein und vielleicht – noch kann man die Entwicklung der Dinge nicht absehen – ist es besser, daß es so kam. Wir haben ein volles Vertrauen, zur deutschen Marine wie zur deutschen Armee. Und die machtvolle Kundgebung, die gestern im Reichstag alle Parteien, auch die Sozialdemokraten, zusammenführte, hat uns, in allen Nöten, froh gemacht und, allen Kriegserklärungen der Gegner zum Trotz, unsere Zuversicht noch verstärkt.
Quelle: Berliner Tageblatt
5 Aug 2014
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