taz.de -- Nachrichten von 1914 – 1. August: Ultimatum an Russland
Deutschland hat Russland aufgefordert, seine Kriegsvorbereitungen einzustellen. Andernfalls würde auch Deutschland mobilisieren. Es droht Krieg.
Die Tragödie entwickelt sich jetzt sehr schnell, und wir stehen, wenn nicht alles täuscht, unmittelbar vor dem Beginn des blutigen Aktes. Nachdem der Kriegszustand erklärt worden ist, hat die deutsche Regierung an Rußland ein Ultimatum gerichtet, in welchem Rußland aufgefordert wird, binnen zwölf Stunden seine Mobilmachung einzustellen und sie hat an Frankreich eine Anfrage darüber ergehen lassen, ob es im Falle eines deutsch-russischen Krieges neutral bleiben wolle oder nicht. Wie wir um elf Uhr abends durch Extrablätter bekanntgaben lautet die amtliche, in einer Extraausgabe der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung veröffentlichte Mitteilung folgendermaßen:
„Nachdem die auf einen Wunsch des Zaren selbst unternommene Vermittlungsarbeit von der russischen Regierung durch allgemeine Mobilmachung der russischen Armee und Marine gestört worden ist, hat die Regierung Seiner Majestät des Kaisers heute in Petersburg wissen lassen, daß die deutsche Mobilmachung in Aussicht steht, falls Rußland nicht binnen zwölf Stunden seine Kriegsvorbereitungen einstellt und hierüber eine bestimmte Erklärung abgibt. Gleichzeitig ist an die französische Regierung eine Anfrage über ihre Haltung im Fall eines deutsch-russischen Krieges gerichtet worden.“
Es ist kaum zu hoffen, daß die russischen Regierung binnen zwölf Stunden die geforderte Erklärung abgeben wird, und es muß als sicher gelten, daß Frankreich sich auf die Seite des russischen Bundesgenossen stellen wird, obwohl es den Krieg nicht will und die Kölnische Zeitung gestern noch schrieb: „Es sei ausdrücklich anerkannt, daß das amtliche Frankreich offenbar mit Deutschland in dem Bestreben einig ist, nur bei äußerster Notwenidgkeit zu den Waffen zu greifen.“ Widerstrebend sehen sich die Völker in diese Katastrophe hineingerissen.
Der amtlichen Mitteilung über das Ultimatum und die Anfrage ist in der Extraausgabe der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Die Vorgeschichte des Konfliktes“ eine Darstellung der Ereignisse, die zu der jetzigen Situation führten, angefügt. Aus dieser Darstellung, die wir weiter unten veröffentlichen, geht klar hervor, daß die russische Regierung dem Deutschen Kaiser und der deutschen Regierung gegenüber ein unwahrhaftiges Doppelspiel gespielt hat.
Während der Zar den Deutschen Kaiser telegraphisch bat, ihm zu helfen und vermittelnd einzugreifen, und während der Deutsche Kaiser dieser Bitte entsprach, setzte die russische Kriegspartei die Mobilisierung durch, und diese Mobilisierung richtete sich nicht nur, wie von Petersburg andauern versichert wurde, gegen Österreich, sondern auch gegen die deutsche Grenze. Gestern, im entscheidenden Augenblick, als aus Wien die Antwort auf einen neuen Vermittlungsvorschlag erwartet wurde, traf das Telegramm des deutschen Botschafters in Petersburg ein, das nunmehr die Mobilisierung der ganzen russischen Armee ankündigte.
Es ist klar, daß Herr Safonow absichtlich die Dinge auf die Spitze getrieben hat, weil er, im Bunde mit einigen Großfürsten und anderen deutschfeindlichen Elementen, jede Verständigung vereiteln wollte. Er hat eine Verantwortung auf sich geladen, die selbst für einen Größeren zu gewaltig wäre.
Der Kaiser hat gestern von einem Fenster des Schlosses aus eine Rede an die unten versammelte Menge gehalten. In dieser Rede heißt es: „wenn es nicht in letzter Stunde meinen Bemühungen gelingt, die Gegner zum Einlenken zu bringen und den Frieden zu erhalten ...“ Wer möchte nicht hoffen, daß das noch gelingen werde, und daß es trotz allem und allem noch möglich sein werde, dem deutschen Volke die „enormen Opfer an Gut und Blut“ von denen der Kaiser sprach, zu ersparen? Wer möchte nicht hoffen, daß die gramvolle Sorge, die in diesen Stunden in den Zügen so vieler Mütter und Gattinnen zu lesen ist, noch einmal weggewischt werden und einem beglückten, befreienden Lächeln weichen könnte? Aber wir sehen kaum, worauf wir solche letzten Hoffnungen noch bauen könnten, und es bleibt uns nur übrig, mit jener ernsten Ergebenheit, die über der Rede des Kaisers lag, in eine schwere Zukunft hineinzugehen.
Quelle: Berliner Tageblatt
1 Aug 2014
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