taz.de -- Nachrichten von 1914 - 30. Juli: Teilweise Mobilisierung in Russland

Russland hat Armeekorps entlang der Grenze mobilisiert. Solange der Weltkrieg nicht da ist, sollten alle Staatsmänner sich um Frieden bemühen.
Bild: Der Anschlag auf den österreichischen Thronfolger Ende Juni 1914 war Ausgangspunkt für den Ersten Weltkrieg.

Im gestrigen Abendblatt haben wir auf die Gefahr hingewiesen, die in den „fortgesetzten, ungemein umfangreichen Rüstungen Russlands“ liege, und wir haben gesagt, dass diese Rüstungen „schließlich auch anderswo zu vorbeugenden Gegenmaßregeln führen könnten.“ Jeder Leser dürfte verstanden haben, was damit gemeint war. Infolge dieser Rüstung Russlands ist in den letzten vierundzwanzig Stunden die Stimmung der unterrichteten Kreise in der Tat eine noch ernstere geworden, und man macht an den leitenden Stellen, bei allem Festhalten an der Friedenshoffnung, kein Hehl daraus, dass man diese Auffassung teile.

Es haben während des ganzen gestrigen Tages und Abend Beratungen stattgefunden, die dieser Frage der Rüstungen galten. Auch die Besprechung, die der Kaiser nachmittags mit dem Reichskanzler [1][v. Bethmann Hollweg] hatte, dürfte sich in dieser Richtung bewegt haben.

Die offizielle Mobilisation, die Russland im Westen und Südwesten des Reiches vornimmt, richtet sich direkt nur gegen die österreichischen Grenzen. Aber es ist nicht zu bestreiten, dass die deutsche Heeresleitung ebenso sehr mit ihnen rechnen muss, wie die österreichische, da wir im Kriege ja an der Seite Österreich-Ungarns zu stehen haben. Wenn Russland versichert, dass es mit Deutschland in Frieden zu leben wünsche, und den Krieg gegen das uns verbündete Österreich vorbereitet, so ist mit den friedlichen Versicherungen nicht viel erreicht.

Es wird betont, dass eine Klärung darüber notwendig sei, ob und wie weit Russland in seinen Rüstungen zu gehen beabsichtige, und dass eventuell die Vorbereitungen Russlands mit Vorbereitungen auf deutscher Seite beantwortet werden müssten, damit man nicht in eine allzu ungünstige militärische Situation gerate. Es ist überflüssig, die Bedeutung dieser Entwicklung erst noch zu beleuchten.

Von den Völkern und den Regierungen, die ihres Bündnisverhältnisses wegen in diese ungeheuerliche Lage hineingleiten, will keines und keine den Krieg. Das deutsche Volk ist absolut friedlich, wünscht mit aller Kraft seiner Seele das Unheil ferngehalten zu sehen, und wir sind überzeugt, dass in Italien, in Frankreich und in England das gleiche Friedensbedürfnis herrscht. Auch die deutsche Regierung ist nicht kriegslüstern, so wenig wie irgendeine andere der beteiligten Regierungen es ist. Noch niemals ist ein Krieg ausgebrochen, den diejenigen, die ihn auskämpfen sollen, so wenig herbeirufen, und doch ist, gegen den Wunsch der Nationen und ihrer leitenden Persönlichkeiten, die Weltkatastrophe nahe gerückt. Ob das unvermeidlich war, ob das alles so kommen musste, darf jetzt nicht erörtert werden – die öffentliche Meinung Deutschlands ist, wie wir wiederholt gesagt haben, vor fertige Tatsachen gestellt worden und sie kann bis zuletzt die Bemühungen zur Erhaltung des Friedens nur unterstützen, indem sie eine kaltblütige Ruhe zeigt.

Aber die Frage muss aufgeworfen werden, ob es kein Mittel mehr gibt, auch noch in der ernstesten Stunde die Gefahr zu bannen, und ob es nicht ein befreiendes Wort wäre und von ganz Europa so aufgenommen würde, wenn man heute öffentlich, nicht in der Heimlichkeit der Kabinette, erklärte, dass das kriegerische Unternehmen Österreich-Ungarns in Serbien seine örtliche Begrenzung haben, dass es zunächst, bis zur diplomatischen Entscheidung über die weitere Gestaltung des serbischen Problems, sich auf die Besetzung bestimmter strategischer Punkte beschränken, und dass es den Charakter einer Strafexpedition behalten werde.

Der Vermittlungsvorschlag Sir Edward Greys war unausführbar und musste wirkungslos bleiben. Europa wartet auf den Fürsten oder den Staatsmann, der nach einer Verständigung mit dem kriegführenden Österreich. Mit einem wirksamen Vorschlag zwischen die gefährdeten Völker tritt.

Es kann wirklich staatsmännischen Persönlichkeiten nicht unmöglich sein, die Form und den Weg für einen solchen Versuch zu finden. Sollte es schon zu spät, und sollte das alles nicht mehr möglich sein? Es darf kein „zu spät“ geben, und es gibt bis zum letzten Augenblick kein „zu spät“. Jeder in Deutschland wird es verstehen, wenn man uns sagen wird, dass man gegenüber der Mobilisation von 16 russischen Armeekorps nicht untätig bleiben kann.

Aber neben der Sicherung der Grenzen wird hoffentlich, solange die Katastrophe noch nicht hereingebrochen ist, die Bemühung für die Rettung des Friedens weitergehen. Es ist sehr möglich, dass auch dieser letzte Versuch missglückt. Aber vor der Welt und vor der Geschichte wird derjenige seine Stellung gewiss nicht verschlechtert haben, der ihn unternimmt.

Quelle: Berliner Tageblatt

30 Jul 2014

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[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Theobald_von_Bethmann_Hollweg

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